Gerade erst habe ich Ferdinand von Schirachs Spiegel-Bestseller-Schmöker "Verbrechen" und "Schuld" ausgelesen, da erfahre ich wie zufällig, dass der Opa des Berliner Strafverteidigers sein Leben 1974 in Kröv geendigt hat. Dort ließ sich im Jahr 1966 der ehemalige Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien Baldur von Schirach nieder, nachdem er seine Haftstrafe als Hauptkriegsverbrecher verbüßt hatte.
Davon hat der damals noch ganz kleine Thorsten Melsheimer aus dem – amtlich – tausendjährigen Reil, das zusammen mit Kröv gleichsam die zweite Hauptstadt des auch verfassungsrechtshistorisch bemerkenswerten sog. "Kröver Reichs" vorstellte, wahrscheinlich nicht viel mitbekommen.
Gut so, nicht auszudenken wäre schließlich, wie die Weinwelt aussähe, wenn sich dieser dann in mehrerlei Hinsicht in die Höhe geschossene Winzer entschieden hätte, Geschichten wie der nachzugehen, die wiederum der eingangs erwähnte Ferdinand von Schirach z.B. in der Episode "Der Koffer" in seinem zweiten Erzählband wiedergibt. Dort geht es nämlich um eine ungeklärte Leichensache und mysteriöse Bilder, auf denen durch den Bauch gepfählte Menschen gezeigt werden: eine mittelalterliche Strafe für Vergewaltiger, die sich namentlich in einem der überlieferten Weistümer pfeilgrad unseres schönen Kröver Reichs findet und etwaigen Straftätern bis in das Neunzehnte Jahrhundert hinein zumindest angedroht war.
Doch wenden wir uns ab von der Halsgerichtsbarkeit und dem zu, was dem Hals wirklich gerecht wird: feinster Moselwein.
VI. Weingut Melsheimer, Reil
1. Sekt Reiler Mullay-Hofberg Brut 2009
Der Sekt ist sehr ordentlich, ohne dass er herausragt. Für schmale 12,50 € wird es natürlich andererseits schon wieder schwierig, einen gleichwertigen Sekt zu finden. Der Brut ist mit ca. 8 g/l dosiert, es gibt ihn auch als Brut Nature, d.h. dosagelos. Auf dem Etikett steht dann trotzdem Extra Brut, aber egal.
2. Reiler Mullay-Hofberg Kabinett feinherb 2010
Frisch gewaschen, aber nicht klinisch sauber, guter Körperbau mit lieblichen Pölsterchen am rechten Platz, so stellt sich der Reichsjugendführer seine Mädelschaft und ich mir einen gelungenen Kabinettwein vor.
3. Reiler Mullay-Hofberg “Schäf” Spätlese 2010
Ein Wein mit schwungvoll weit ausholender Pranke und direkt ausladender Geste, der dann aber erstaunlich präzis zupackt, so als würde man mit einer Containergreifanlage Katzenbabies umsetzen. Lang, griffig, mit Apfel, Limone, Kräutern und dem kühlenden Effekt von unter der Nase verriebenem Menthol. Außerdem ein Wein, der romantisch stimmt und auch ein bisschen rebellisch.
Sugardaddy's Sweety Pie:
4. Reiler Mullay-Hofberg Auslese 2010
Kommt dem Idealtypus der Moselauslese so nah, dass die Heisenberg'sche Unschärferelation ganz von selbst eingreift. Im Glas vollzieht sich die süße Metamorphose des schieferdurchwirkten Apfels als verbotene Frucht und Fruchtbarkeitssymbol, Auslöser der Erbsünde und der Newtonschen Gravitationslehre. Kunstfertigkeit, Beherrschheit und eine Prise Chaos, quasi eine trinkbare Einführung in die Quantenphysik oder wahlweise in den Zen-Buddhismus.
VII. Johann Lenz, Pünderich
Sugardaddy's Lovely Little Princess
1. Pündericher Marienburg Spätlese 2010
Kamen mir die Weine von Lenz zuletzt sehr verschlossen und beinahe märchenhaft wie von Dorngestrüpp überwuchert vor, so ist es jetzt an der Zeit, aufzumerken. Die schon immer noble Säure der Marienburg hat sich hier noch einmal weiterentwickelt und selbst wenn sie noch nicht mitreißt, ist sie doch schon prickelnd, belebend und die abgefeimtesten Wüstlinge meines Alters könnten sich unversehens in der Prinzenrolle wiederfinden. Bei 7,80 €/Fl. zudem ein erfreulich günstiges Vergnügen.
VIII. Weingut Moog, Traben-Trarbach
1. Trabener Gaispfad Spätlese 2009
Beim Gaispfad kann ich mich nie dem Bild von Zicklein, die vom moselanischen Geißenpeterpendant über einen schmalen Steig zurück ins Dorf getrieben werden, sich da und dort schubbernd und im Weinberg ihre Hinterlassenschaften verteilend, entziehen. Deshalb meine ich auch oft oder immer eine speziell animalische Note in gutem Wein aus dieser alten Spitzenlage zu vernehmen. Bei diesem gegenüber dem letzten Jahr deutlich fortentwickelten Exemplar hat sich das mit den Ziegen gelegt, nur eine gewisse zitrusfrische Wildheit ist geblieben.
3. Trabener Gaispfad Spätlese 2010
Ausgeprägt traubig, minimal muskatig, emulsionsartig und trotz der aromatisch sich abzeichnenden Profiltiefe noch zu verwaschen und unfertig.
IX. Richard Böcking, Traben-Trarbach
Eine Minivertikale gab es bei Richard Böcking. Sehr schlau wurde ich daraus nicht, denn es fiel mir selbst für meine eingeschränkten Verhältnisse schwer, einen roten Faden oder eine typische Entwicklungslinie bei den verschiedenen Ungsbergen zu erkennen und vor allem deshalb fühlte ich mich ein wenig wie der BGH im Jahr 1990 bei der Beurteilung von Henry Millers "Opus Pistorum", Az. 1 StR 477/89, BGHSt 37, 55 ff.
1. Alte Reben feinherb 2010
Primärfruchtig, mit etwas Apfel, viel Hefe und aufgeregter Jugend.
2. Trarbacher Ungsberg Spätlese feinherb 2009
Mit einem überraschenden, aber nicht ganz unwillkommenen Stinkerle eröffnete die 2009er Spätlese. Dahinter war sie, als hätte ich es geahnt, zitrusfruchtig, und zwar sehr. Eine feine Herbe setzte sich wohltuend und unangestrengt davon ab, was dem Wein Tiefe verlieh. Keine önologische Großtat, aber für 9,00 €/Fl. ein maskulines Gegenstück zu Lenzens Pündericher Marienburg.
3. Trarbacher Ungsberg Kabinett feinherb 2008
Sehr leicht, sehr fein, ich hatte die mehr oder weniger unbegründete Furcht, bei dem Wein das bekanntermaßen nicht sehr kräftig ausgebildete Jahrgangsrückgrat durch unbedachtes umhersprudeln im Mund zu zerbrechen. Dem war dann nachher doch nicht so.
Sugardaddy's Petite Angel:
4. Trarbacher Ungsberg Spätlese feinherb 2007
Es mag am Jahrgang und am Prädikat liegen, ja, das wird es sein; der 2007er Ungsberg war dem 2008er an Gestalt nicht unähnlich, der Körperbau feingliedrig, aber weniger verletzlich. Da war mehr Fleisch dran, ein angenehm nahrhafter Duft wie von Himmel und Erd' zog in die Nase, am Gaumen wetzte sich eine hochwertige Säure ab, bis der Wein durch reichliches Hin- und Herspülen mürbe genug war, um die nur schwer reversible Reise in den Rachen anzutreten wohin er sich leise gluckernd verabschiedete und mich zufrieden zurückließ.
5. Trarbacher Ungsberg Spätlese feinherb 2006
Schon angeältelt wirkte die schließende Spätlese aus dem gemeinhin aufgrund seines abträglichen Herbstregens als in diesem Fall zu recht schwächer angesehenen Jahr 2006.
X. KKR Bergrettungsweine
1. Bergrettung Spätlese 2010
Gut schmeckte mir die 2010er Spätlese, wenngleich schon wieder sehr saftig und beinahe wieder naiv-süß. Wahrscheinlich keine Kandidatin für die ganz lange Reife, da mir ein haltgebendes Säurekorsett nicht auffiel, aber das mag täuschen.
Sugardaddy's Secret Enhancement Drink:
2. Bergrettung Auslese 2007
Bei erneut nur ganz wenig Säure entwickelte sich hier eine überaus ansprechende Säure und faltete sich aus wie die Blüte der Akelei, der man lange Zeit nachgesagt hat, sie verhelfe dem Mann zu neuer Kraft bei der Verrichtung seiner ehelichen Werke und stehe gleichzeitig für heimliche Lieb, verbotene Verführung. Den Frauen sollte sie als Präparat zur Linderung von Regelschmerzen dienen. An alledem volksmedizinalen Zauber ist aus pharmakologischer Sich nicht viel dran; im Zweifel würde ich deshalb eher zu einer Flasche 2007er Bergrettungsauslese raten, der jeweils gewünschte Erfolg dürfte sich hernach mit größerer Gewissheit einstellen.
3. Bergrettung Auslese 2006
Einer anfänglich aufjauchzenden Säurespitze folgen Klebstoff und Petrol, der Wein wirkt etwas gedrängt und unausgeglichen, aber nicht schwach. Mit Luft zieht sich das Panorama wieder etwas weiter auseinander, nur die Säure reicht nicht von Anfang bis Ende; beginnt jetzt, für Freunde reifer Auslesen interessant zu werden. Ultralang wird er aber wahrscheinlich nicht leben.
XI. Kirchengut Wolf, M. & U. Boor, Wolf
Seit gerade einmal zehn Jahren sind Markus und Ulrike Boor Nachfolger in der Weinbereitung erst katholischer, dann protestantischer Kirchenmänner. Bewirtschaftet werden vier Hektar. Ecovin.
1. Wolfer Goldgrube Spätlese feinherb 2010
Erst eine recht appetitanregende weit entfernt an Erbsensuppe erinnernde Nase und eine gesund scharfe Würze wie von Radieschen oder Ingwer, dann herber Honig, Salbei; auch pricklig, noch hadernd mit sich oder der Welt.
2. Wolfer Goldgrube Spätlese 2010
Den Frieden mit sich oder der Welt hat die Spätlese gemacht. Hier ist alles von einer zukunftsfreudigen Diesseitigkeit und lupenreinen Entwicklungsfreude, mit vorschnellender, aber nicht lästiger Säure, Popcorndynamik, geklärter warmer Butter und einer sympathischen Aufgekratztheit, dass es dem Herrn ein Wohlgefallen sein muss, im Erst-recht-Schluß mir dann natürlich auch.
Sugardaddy's Tea Time Girly:
3. Wolfer Goldgrube Auslese 2010
Popcornduft als Reifefähigkeit indizierende Schwefelverbindung ist ja schon etwas Feines; eine Stufe darüber steht für mich noch der Duft von schwarzem Tee, wie ich ihn in dieser mit 18,00 €/Fl. nicht überteuren Auslese detektieren konnte. Hinzu kamen verträumt klebstoffige Noten, eine intensive und sehr reale Weinigkeit verhinderte derweil das Abdriften ins Ponytraumland.
XII. Ingmar Püschel, Traben-Trarbach/Hürth
Ein weiterer Vollblut-Quereinsteiger ist Violinist Ingmar Püschel. Alte Korbkeltern, Holzfässer und Edelstahl, Spontanhefen, ein bisschen Schwefel. Genau daraus wird sein Wein und sonst aus nichts. Bei Martin Müllen hat er sich das Handwerkszeug, resp. -wissen angeeignet, das sowieso vorhandene ästhetische Empfinden ist orchestral geschult. Beste Voraussetzungen also für Wein, der gemacht wurde wie in der Zeit, als Sonnenuhren das Tempo vorgaben.
1. Kröver Steffensberg Auslese 2009
Schlank und fein, damenhaft mit milder Säure. Passt zum Minett ebenso wie zum Menuett.
Sugardaddy's Doctor Play Zone:
2. Kröver Steffensberg Auslese 2010
An apple a day keeps the doctor away. In dieser Form gern. Krachgrüner Apfel in Reinstform.
3. Kröver Steffensberg Beerenauslese 2009
Damenhafte Anmut oder niedlichen, aber unschuldigen Knackpo haben wir jetzt hinter uns gelassen. Die 2009er Beerenauslese ist dabei weißgott nicht von schwülstigem oder sonst überladen bis pseudobarock wirkendem Format und Dekor, auch quillt er nicht geil über – das Gegenteil ist der Fall, der Wein ist wenn überhaupt dann vergleichsweise schlank und auf den ersten Blick züchtig. Wir reden aber am Ende doch von einem Wein, bei dem man, so ähnlich wie bei den allenthalben in der Klatschpresse abgebildeten prominenten Babybäuchen im sagen wir sechsten Monat, einfach nichts mehr verstecken kann. Muss man auch nicht; die 2009er BA ist so lebenbejahend wie der Zeugungsakt selbst.
4. Kröver Steffensberg Beerenauslese 2010
Bei der Beerenauslese ists dann endlich ganz aus mit Anstand, Würde und Zurückhaltung, der Wein ist druckvoll, ist bis oben hin beladen mit frechen Früchten und gut aufgelegter Klebstoffnote, dabei birst er förmlich vor herrlich versauter Spielfreude und Laken durchtobender Lebenslust die beide noch lange nachklingen.
Gast: Immich-Batterieberg
Gernot Kollmann kam nach Stationen bei den Bischöfen und Roman Niewodniczanski und unter anderem als Berater vom Weingut Knebel, dessen Riesling-Sekt mir ein treuer Begleiter ist, zu einem der reaktivierten Mosel-Starweingüter, dessen Etiketten allein schon zum Kauf reizen. 2010 war nach dem vielgelobten Startjahr sicher kein leichtes Jahr für ihn; Umstellung auf Bioweinbau, geringe, durch Botrytis noch einmal verminderte Erträge von ca. 20 hl/ha, dafür stellenweise dramatische Säurewerte und Fragen über Fragen, sei es nach dem "ob" und "wie" der Mostentsäuerung, oder nach dem richtigen Vinifizieren und Mixen der botrytisfreien Parzellen mit denen, die sich einen Pilz eingefangen haben. Von all den schwierigen Entscheidungen ahnt man nichts, wenn man die Kollektion probiert, was zeigt, dass Gernot Kollmann seinen Beruf nicht verfehlt hat.
1. C.A.I. 2010
Die Visitenkarte. Der Wein schlägt sofort seine Pfähle ins Herz ein. Spontan ist er; trocken sowieso. Leugnet aber nicht die moselanische Herkunft und trägt eine elegante, raffiniert angedeutete süße Schleppe. Konsequenterweise führt er einen flotten Säuredegen mit sich. Für 9,00 €/Fl. ein Pflichtkauf, wenn man trockene Moselweine schätzt.
2. Batterieberg 2010
In seiner ganzen Tiefgründigkeit und Mineralität dieses Jahr leichter als der Steffensberg und wenn leichter irgendwie nicht das richtige Wort ist, dann eben offener und freundlicher. Kann ich nicht recht einschätzen.
3. Steffensberg 2010
Wo der Batterieberg, um in Möbelfarben zu sprechen, helles Lichtgrau und eine knusprige Art an den Tag legt, ist der Steffensberg dunkler, anthrazitfarbener, hat ausgeprägteren Salinecharakter. Während der Batterieberg unverdrossen plätschert, ist der Steffensberg unberechenbarer und vielleicht nicht gewaltiger, aber dominanter. Mindestens ebenso schwer einzuschätzen.
4. Ellergrub 2010
Hier hat mich ein Anflug von Petrol gestört. Bei jungen trockenen Rieslingen mag ich das gar nicht. Entschädigt hat der Wein mit seiner geschmacklichen Güte im Übrigen, da waren Länge, Kraft, Entwicklung, eine feinstoffige, gerbende Art, eine zurückhaltende aber merkliche Dosierung heimischer Obstsorten und durch die sehr kunstvoll nach hinten herausgezogene Länge war der Petrolärger schnell relativiert.
5. Zeppwingert 2010
Mein Kollektions-Favorit in diesem Jahr. Energiegeladen bis tumultuös, Apfel und Quitte, weißes Fruchtfleisch en masse, auch Moos, auch Kräuter, die reinste Gesteinsbohrmaschine.
6. Escheburg 2009
Schwächlich und leicht angemuffelt wirkte danach die Lagencuvée Escheburg.