Im Anschluss an eine Clos des Goisses Vertikale noch Champagner zu trinken, mag nur dann noch sinnvoll erscheinen, wenn man bei Clos des Goisses bleibt. Das ändert sich selbst dann nicht, wenn man vorher schon den ganzen Tag Vins Clairs von zwanzig anderen erstklassigen Winzern probiert hat und erst recht sollte man wissen, wann es gut ist, wenn man nicht nur Vins Clairs intus hat, sondern auch die aktuellen Dégorgements besagter Winzer unter die Gaumenlupe genommen hat. Entscheidet man sich bei dieser Sachlage trotzdem noch dazu, weiteren Champagner aufzunehmen, dann muss es sich schon um ein besonderes Stöffchen handeln.

Solch eine Entscheidung trifft man ohne Reue, wenn es sich um Champagner von Selosse oder Egly-Ouriet handelt, wenn Champagnerverächter Nicolas Joly einen Champagner machen würde, fiele mir die Entscheidung auch nicht besonders schwer. Nun aber rief Benoit Marguet von Champagne Marguet Père et Fils nach Ambonnay. Das ist, ehrlich gesagt, für sich genommen noch nicht genug, um von einer an sich klugen Entscheidungsformel abzuweichen. Marguet ist in der Champagne nicht ganz unbekannt, Familienbande bestehen seit den 1870er Jahren zu Henriot und Pioniergeist ist der Familie durchaus nicht fremd: Emile Marguet, Schwiegervater von Paul Henriot, hatte schon ganz zu Beginn der Reblauskatastrophe in weiser Voraussicht Reben auf resistente Unterlagen gepfropft. In jüngerer Zeit, d.h. bis 2005 firmierte man als Marguet-Bonnerave, heute als Marguet Père et Fils; der Weinpresse gefällt's.

Benoit Marguet also hat von diesem Pioniergeist mehr mitbekommen, als zB seinen Eltern lieb ist, die nämlich von nachhaltigem, gar biodynamischem Anbau wenig oder lieber noch: nichts wissen wollen. Um diese Herzensangelegenheit vorantreiben zu können, tat er sich 2006 mit Hervé Jestin zusammen, der soeben bei Duval-Leroy – wo er mit seiner Kellermagie zuletzt nicht auf große Gegenliebe stieß – ausgeschieden war.  Als biozertifizierte Traubenlieferanten konnte er, da seine eigenen Weinberge zu dieser Zeit noch nicht selbst zertifiziert waren, namhafte Größen im Geschäft gewinnen: Vincent Laval und David Leclapart waren 2006 die ersten beiden Unterstützer, 2007 kam dann noch Benoit Lahaye hinzu.

Damit waren genug Punkte beisammen, um mich selbst am Ende eines langen Verkostungstages noch zu weiterem Probieren zu animieren. Benoit Marguet empfing zusammen mit Hervé Jestin bei Kerzenschein (weil der Strom ausgefallen war) im kleinen Kreis und öffnete alle vorhandenen Jahrgänge:

Sapience 2010

Die Jahrgänge ab 2007 enthalten durchgängig 50CH 25PN 25PM und sind Brut Nature.

Arg jung, mit den typischen Primärnoten von Kirsche und Banane, hier angereichert mit Ananas und Kokos, smoothiehaft, samtige, feinpürierte Textur mit sehr crèmiger, leicht träger bis schläfriger Mousse. Mit Luft pflanzliche, auch minimal gerbende Komponenten, mehr eingedickter Kirschsaft, schwarzer Pfeffer. Ein Champagner, der aus dem Stadium der Bocksprünge noch nicht raus ist. 

Sapience 2009

Multivitaminsaft mit Mandeln, Marzipan, Rosenblüte und Zimt, außerdem noch Gebäck, Vanillezucker und Pasta di Mandorla. Wirkt deutlich ausgereifter als der 2010er, ist weich wie Zitronengel aus der Molekularküche und daher wohl auch gleichzeitig glatter und seidiger, was ihm schon eine ansprechende Eleganz verleiht.  

Sapience 2008

Der rundeste, ausgewogenste, am schönsten balancierte Champagner bisher, merklich aus gutem Elternhaus, resp. Jahrgangsjahr. Trotz des Eindruck hoher, reifebedingter Süße ein eleganter Champagner mit raffinierten Details.

Sapience 2007

In einem Zwischenstadium habe ich den 2007er angetroffen. Offenbar befindet er sich auf dem Rückzug in sein Inneres. Dabei holt er die Primäraromen ein, wie eine Flagge beim abendlichen Fahnenappell. Das erklärt, warum er anfang im Mund sehr stark wirkt, dann aber limonadig abflacht und erste, vereinzelte jodige Aromen hervortreten lässt, die freilich recht verloren wirken und sich nicht recht zu helfen wissen.

Sapience 2006

1/3PN von Laval 2/3CH von Leclapart, mit 3 g/l dosiert

Amylisch, trotz seines Alters immer noch mit viel Birne und Marille. Wirkt schon sehr reif, trotz seiner geringen Dosage vollmundig und süß, auf mich trotz spürbaren Reifeprozesses mit deutlich verbreitertem Würzespektrum noch sehr jung und entwicklungsfreudig, d.h. noch längst nicht in einem stabilen Zustand, der es ermöglichen würde, mehr als nur einen kleinen Momenteindruck zu gewinnen. 

Fazit:

Mit einem Selosseherausforderer oder gar -killer haben wir es hier nicht zu tun. Dafür ist das Konzept und die Art der Weinbereitung nicht wegweisend neu genug. Biodynamie und Burgundertechnik sind ganz im Gegenteil schon richtiggehend heimisch geworden  in der Champagne. Technisch wandelt die Cuvée Sapience also nur auf den Spuren des Meisters, ohne ihn zu überholen oder anzugreifen. Und Egly, der am anderen Ende von Ambonnay wohnt, wird sich über diesen Champagner auch nicht erschrecken. Dazu steht er viel zu fest auf eigenen Beinen. Ob Nicolas Joly, würde er einen Champagner machen, ihn so machen würde? Vielleicht. Wir wissen es nicht. Und damit die Vergleichezieherei nicht zu sehr ins Kraut schießt, beende ich sie hiermit schnell. Die Sapience-Champagner von 2006 bis 2010 und der folgenden Jahre haben ein gutes Konzept und profitieren von stringenter Umsetzung. Meine ersten Verkostungseindrücke sind positiv, aber für eine tragfähige Einschätzung reichen sie nicht.