Jahr für Jahr überlege ich, der Prowein im nächsten Jahr fernzubleiben. Zu viel Rummel, zu viele Termine, die sich doch alle nicht einhalten lassen, zu anstrengend usw. Dann wieder denke ich daran, wen ich da doch alles wieder treffe, wie schön die Vorabend- und flankierenden Veranstaltungen sind und dass allein die Champagnerprobe von Sascha Speicher jedes Mal den Besuch vollauf verlohnt. So war es auch dieses Jahr wieder.
Jetzt genau ist es an der Zeit, einen Blick auf die großen (bereits veröffentlichten) Jahrgänge der letzten 15 Jahre zu werfen. Welche das sind, weiß jeder, der sich mehr als nur am Rande für Champagner interessiert: 2002, 2004, 2008.
Bei meinem letzten Besuch im Hause Deutz habe ich mich vorwiegend an die mit und seit dem 1961er Jahrgang etablierte Cuvée William Deutz gehalten. Die Amour de Deutz dagegen habe ich seit ihrer ersten Marktfreigabe immer nur sporadisch probiert und weil es sich um den nicht ganz so famosen 1993er handelte, hernach leider nicht mit genügendem Ernst betrachtet. Als weiterer Grund dafür mag herhalten, dass Amour de Deutz aus der Moderebsorte der 90er gemacht wird: Chardonnay, aus Avize und Mesnil-sur-Oger. Der 2002 nun ist ein erwachsener Champagner, der das Jahr gut verkörpert. Zwar ist er ungewohnt massig, nussig und süss; dafür hat er als Gegengewicht viel gelbe Frucht, wirkt ausgeowgen rund, weich und reif. Interessante Notiz am Rande: Deutz hat sich entschieden, die als Blanc de Blancs aufgelegte Cuvée künftig in weiß und rosé herauszubringen und den William Rosé aus 100PN dafür zu streichen.
Pol-Roger ist bekannt für seine getreue Abbildung der Jahrgangseigenschaften. Deshalb darf der Millésime 2002 in einer kleinen Jahrgangsübersicht nicht fehlen. Nach dem Amour hat er es natürlich schwer. Dennoch gibt er sein bestes und zeigt sich kernig, bei – leider, muss ich sagen, denn diese hohe Süße bei Pol-Roger ist mir mehr und mehr lästig, selbst wenn sie sich dereinst als das Geheimnis für die unheimliche Lagerfähigkeit der Champagner entpuppen sollte – ähnlich hoher Süße wie Deutzens Amour, deren Niveau er im übrigen nicht erreicht. Für einen 2002er ist der Pol-Roger noch sehr speckig und bei weitem nicht fertig im Sinne von so weit herausgeschält aus dem schützenden Speckmantel, dass man von Konturiertheit sprechen könnte. Also: lieber weiter liegen lassen.
Pommery Louise 2002 habe ich zusammen mit 1998 und 1999 mittlerweile schon in einer kleinen einstelligen Prozentzahl der Gesamtproduktion zu mir genommen und sehe im Moment den 199er als den schönsten Louisejahrgang an. Das war nicht immer so, die späten 90er sind mir vielmehr nur als hässliche Entlein erinnerlich, die sich im Kellerdunkel zu den Schwänen der Jetztzeit entwickelten. Beim 2002er ist das anders, da ist nichts hässlich, sondern schon jetzt alles schön, nur zerbrechlich, durchsichtig, milchig und beinahe wie hilfebedürftig, wenn da nicht neben der ganz aparten, unoxidativen Milchschokolade, auch kräftige, erstaunlich willensstarke Anklänge wären, die dem Champagner etwas von einer Ballettelevin geben; Röstnoten und Nougat, die auf Autolyse zurückzuführen sein mögen und nicht, wie oft vermutet wird auf hölzernen Einfluss, sprechen von den ersten Reiferegungen und beginnender Pubertät.
Schwenk zum 2004er, der in der Wertschätzung ein hartes Match mit dem 2002er liefert. Zunächst das Pendant zum Pol-Roger, ein "einfacher" Jahrgangschampagner, also vor allem eine möglichst klare Umschreibung der Haupteigenschaften des Jahrgangs. Lanson Gold Millésime 2004, sehr jung, sehr erfrischend und sehr fröhlich. Typisch war die BSA-freie Säure, eine ernste Komponente gab der fein gerbende Mundeindruck hinzu. Das sehr reichhaltige und bei Unachtsamkeit schnell aromatisch verschwommene Jahr wurde von Lanson gerade wegen des dort üblichen Verzichts auf BSA sehr scharf gezeichnet und wird noch viele Jahre liegen können.
Ein großer und eleganter Klassiker ist Dom Pérignons 2002er und mehr sogar noch der 2004er, den ich gern mal neben einer Louise 2004 trinken will. Denn trinklustig ist er, der alte Mönch, voller Silex, Toast, Vanille, Jod und einer gesunden Menge Seetang, was besonders in den 90ern und bis einschließlich 2000 für mich mal Überhand genommen hatte, mittlerweile aber kontrollierter Verwendung findet.
Einen Anschluss und Richtungswechsel gab es mit Taittingers Comtes de Champagne 2004, auch dieser röstig, hefig, zitronig, apfelig, leicht und sogar mit etwas innewohnender Kühle, die mir sehr gut gefiel und auf die es in den nächsten Jahren zu achten gilt. Wenn sie bleibt, ist das ein Kandidat für die Ewigkeit.
Danach konnte nur noch ein schwergewichtiger Schlusspunkt kommen. Für diese Aufgabe empfiehlt sich stets Nicolas Feuillatte Palmes d'Or 2004, dessen Stoff und Überfuelle in ein barockes Herzogtum passen, wobei man nicht vergessen darf, mit welcher Leichtigkeit und Agilität manche massigen Typen sich doch bewegen können. So ist es immer wieder beim Palmes d'Or. Erst denke ich immer, das ist ja ganz nett aber mir dann doch zu sättigend. Und dann stelt sich trotz aller Trinkbemühungen doch kein Sättigungsgefühl ein, sondern die Flasche ist leer und notgedrungen mache ich, um den Beweis zu erzwingen, noch eine zweite Flasche auf, die noch immer nicht zum gewünschten Resultat führt. Verrückt.
Der Schlussjahrgang lässt sich noch nicht mit Prestigevuvées bestreiten, die schlummern alle noch. Selbst Scnellschießer wie Roederer oder Perrier-Jouet sind noch nicht in diesem Jahr angekommen. Aber Louis Roederer hat immerhin schon den Millésime 2008 rausgebracht, und zeigt damit vor allem, dass das mit dem oxidativen Ausbau der Grundweine hier sehr gut klapp, vor allem steht die dadurch erzielte stabile Art der für den Jahrgang typischen, recht hohen, aber pikanten Säure. 2008 darf man sich schon jetzt alsden keckeren Jahrgang im Vergleich mit 1996 merken, wobei er sonst ein dem 88er ähnliches Profil aufweist, nicht ganz so ausgereift vielleicht, daher angenehm gerbend und keinesfalls mager.
Dann ging die Agraparty los. Agrapart, Avizoise 2008, war mit beiden Händen in den Buttertopf, bzw. Sahneeimer gelangt, ich fühlte mich an laktierende Muttis aus Babynahrungswerbespots erinnert, hatte Hefe in der Nase, spürte Durchhaltevermögen, Zug und sorgenfreie Leichtigkeit.
Das Muttifeeling wurde dann noch gesteigert durch Paul Bara Special Club Rosé 2008, ein Bouzy so warm und mächtig, dass man sich sofort geborgen fühlt. Dass dahinter mehr steckt, machte der Champagner schnell klar. Prägnante Säure, kaum ein rötlicher Charakter, wie man ihn sonst gern mal bei den Winzerrosés aus Bouzy, Ambonnay und Umgebung findet. Dafür fordernd wie ein Inkassobüro, geschwind, feinbeerig, kaum störende oder bremsende Nuss, erst gegen Ende leicht erdbeerig und ganz am Ende für einen kurzen Moment ausladend süss.