Serzy-et-Prin ist ein Örtchen, das selbst bei dämmeriger Beleuchtung noch genügend von sich erkennen lässt, um sensible Besucher zu verstimmen. Dass dort Edelreben wie Chardonnay gedeihen sollen, hört sich unglaublich an. Bei jedem Besuch in dieser zugigen Ecke quält mich die Frage, ob die Winzer hier nicht in Wirklichkeit ihren Champagner aus Maiskolben und Raps gewinnen. Doch dann fahre ich beispielsweise bei Yves Delozanne vor, werde von der stets gut gelaunten und um die Augenpartie herum auffällig farbenfroh geschminkten Valérie Delagarde empfangen und beim ersten Glas vergesse, resp. verdränge ich die bangen Fragen.
1. Yves Delozanne, Blanc de Blancs NV
Der Chardonnay stammt doch tatsächlich aus der kalten Vallée de l'Ardre, die mit späten Frösten, reichlich Nässe und schlechter Belüftung nicht gerade ein Vorzeigegebiet für die feinsten Chardonnays der Welt ist. Mit etwas bösem Willen könnte man sagen: das schmeckt man auch, aber dazu braucht es, wie gesagt, schon eine Spur Gehässigkeit. Der Champagner ist einfach, mit einer geradlinigen, nicht besonders komplizierten, leicht wässrig wirkenden Säure. Aromatisch kein Schwergewicht, erinnert er mich an den kürzlich verkosteten Grain de Folie von Jean-Francois Launay, dessen Trauben nicht sehr viel weiter weg stehen. Dass der Blanc de Blancs von Delozanne/Delagarde es in den Guide Hachette 2010 geschafft hat, verblüfft wahrscheinlich die dortigen Verkoster selbst am meisten. Für die sympathische Valérie freut es mich jedenfalls.
Im ganzen Ort Serzy-et-Prin gibt es dem Vernehmen nach gerade einmal drei Winzer, die amtlich eigenen Champagner herstellen, mir ist bei dieser Zählweise nicht ganz klar, ob Chaoswinzer Bernard Housset dazugehört, oder nicht. Über den, der auch als Vorbild für den Jonas Lauretz aus John Knittels Via Mala hätte dienen können, an anderer Stelle mehr. Wenige Meter in entgegengesetzte Richtung stolpert man in das Anwesen von Franck Bailly, Champagne Alain Bailly.
2. Alain Bailly, Rosé
Sehr kühl kam der Rosé von Bailly ins Glas und hatte keine Chance, sich vernünftig zu entfalten, denn nach guter Winzergewohnheit war die dickwandige Miniflöte bis zum Äußersten der Kohäsionskraft ihres rosigen Inhalts gefüllt. Dabei einen bestimmten Duft wahrzunehmen, wäre reines Lotto gewesen. Im Mund war der Champagner auch mit längerem, unappetitlich sprotzelndem hin- und herspülen kaum besser zu analysieren. Doch zum Glück kenne ich den Champagner von vorherigen Visiten einigermaßen und konnte ihn deshalb nach nur oberflächlicher Güteprüfung kaufen. Denn wie ich mittlerweile weiß, entwickelt sich dieser Rosé mit ca. 12 – 15 Monaten Flaschenreife sehr zu seinem und seines Eigentümers, bzw. Trinkers Vorteil. Natürlich gehört er zu den derberen Vertretern, doch ist er nicht völlig plump. Milde rotfruchtig, ohne aufgesetztes Gehabe, parkettsicher, aber kein Salonlöwe.
3. R. C. Lemaire,
Villers-sous-Châtillon. 12 ha in Cumières, Hautvillers, Reuil, Binson-Orquigny, Troissy und Leuvrigny.
Die gepflegte Domaine erstreckt sich über beide Strassenseiten und mehrere Häuser. Monsieur Lemaire ist nicht sehr hochgewachsen, sehr energiereich, leicht aufbrausend und etwas rechthaberisch, doch letztlich nicht unsympathisch. Seine Champagner gibt es im Alsterhaus, worauf er sehr stolz ist, wie er überhaupt gern durchblicken lässt, dass renommierte Sommeliers in aller Welt seine Champagner mögen. Das Marketing und die Kellerführung übernahm sein Sohn, der entfernt wie eine etwas kleinere Ausgabe von Bono Vox aussieht und in leicht nervender Marketingrhetorik seine Lektionen gelernt hat. Die Champagner durchlaufen keinen biologischen Säureabbau, was man deutlich merkt. Der Dosagezucker ist guter Rohrzucker, doch davon nicht zu viel. Vier Gramm sind es meist nur. Der etwas höhere Schwefelbedarf fällt gegenüber Champagnern mit BSA nicht sehr ins Gewicht, mit durchschnittlich ca. 12 mg/l freiem SO2 liegen Lemaires Champagner noch weit unterhalb dessen, was normalerweise in Stillweinen anzutreffen ist. Alles in allem macht Monsieur Lemaire auf seiner Domaine offenbar alles anders, als er es noch bei Moet et Chandon zu machen gewöhnt oder genötigt war.
a) Brut Sélect Réserve
100PM, Ausbau im Stahltank.
Etwas klotziger Champagner, der bei mir den Eindruck einer Maulsperre hervorrief, so als müsste ich meine Zähne in eine Kalbshaxe schlagen. Die etwas sehr prominente Säure glich das aus, doch die beiden Eindrücke zusammen ließen den Champagner nicht ganz stimmig erscheinen. Sicher, er war frisch und wird nach einem Jahr vielleicht harmonischer schmecken, doch der momentane Eindruck ist eben noch uneinheitlich. Chardonnay hätte hier noble Rasse verleihen können, Pinot Noir hätte großzügigere und entspanntere Gediegenheit vermittelt.
b) Cuvée Trianon
60PN 40CH aus den Premier Crus Cumiéres und Hautvillers. Vierjähriges Hefelager.
Davon habe ich mir einige Magnums gesichert. Der Rebsortenmix mag nicht besonders einfallsreich und nicht besonders typisch für die Gegend sein. Das Ergebnis spricht für die Rezeptur und bestätigt meinen positiven ersten Eindruck. Grünlichfruchtige Noten, Zitronengras und Nektarine, alles mit einer der Jugend geschuldeten, leicht ruppigen Härte. Für mich sind das gute Voraussetzungen für eine schöne langsame Reifung en Magnum.
c) Rosé de Saignée
50PN 50PM, zweijähriges Hefelager.
Bis vor zwei Jahren war der Rosé von Lemaire stets ein Rosé d'Assemblage. Das hat sich geändert, nun ist es ein Saignéechampagner. Mir kam er dennoch nicht besonders beeindruckend und gut vor. Vielleicht hätte Monsieur Lemaire doch dabei bleiben sollen, einen vernünftigen roten Coteaux Champenois zu produzieren und ihn zur Roséproduktion in der erforderlichen Menge seinem Champagner hinzuzufügen. Oder aber er übt noch ein bisschen.
d) Millésime 2004
Chardonnay von 35 Jahre alten Reben aus dem Premier Cru Hautvillers. Neunmonatiger Ausbau der Grundweine im mehrfach belegten Holzfass, Dosageliqueur – mit Rohrzucker – reift ebenfalls im Holz.
Den Holzton merkt man und ist angetan. Er ist verhalten, mit Kennergriff drapiert, anschmiegsam am Gaumen und weit von überholztem Getöse entfernt. Schön ist die ganz beiläufige Enfaltung des übrigen Aromenspektrums neben und mit dem Holzton. Säure, Frucht, Gewicht, Schmelz, stehen zwanglos nebeneinander und verlaufen – anders als beispielsweise von mir angefertigte Aquarellmalerei – nicht in einen undefinierten und matschigen Brei, sondern liefern sich an ihren Grenzflächen farbenfroh schillernde Reflexe.
4. Xavier Leconte,
Troissy. 8 ha in der Vallée de la Marne.
Monsieur Leconte habe ich jetzt erst kennengelernt. Seinen Champagner, genauer: seinen Brut Réserve kenne ich schon seit Jahren, habe ihn aber auch schon ewig nicht mehr getrunken. Seine Champagner sind so wie der Trianon von R.C. Lemaire für die Reifung in Grossflaschen bestens geeignet. In der Jugend sind sie nämlich ganz genau in dem Maß ungefügt, das ihnen bei der langsamen Reifung sehr zugute kommt. Herr Lemaire selbst ist mir leider als Muffelkopp begegnet. Überwiegend ungesprächig, mit quasi-inquisitorischen Fragen zu meinen Verkostungswünschen, einer etwas herablassenden Art und gemütsarmem Habitus hinterließ er persönlich im Gegensatz zu der sehr vorteilhaften Präsentation seiner Champagner auf der Website keinen besonders günstigen Eindruck. Trotzdem habe ich mir einige Magnums von seiner Réserve gekauft und die "Vents d'Anges" Rebsortentrilogie. Und außerdem noch eine Flasche von seinem weiß gekelterten Pinot Meunier Stillwein.
a) Première Cuvée
80PM 15PN 5CH, dreijähriges Hefelager.
Mit seinem ersten Champagner aus dem Alltagssegment zeigte Monsieur Leconte, dass er nicht nur die Flaschenausstattung im Griff hat, sondern vor allem seine Handwerk versteht, wenn nicht gar meisterlich beherrscht. Natürlich erwarte ich von einem Standardbrut eines kleinen Winzers aus der Vallée de la Marne keine Geschmackswunder. Doch solide Arbeit wünsche ich mir schon und werde selbst da noch unverhältnismäßig oft enttäuscht. Nicht so hier. Lecontes Première Cuvée zeigt, wie man mit meunierbasierten Cuvées arbeiten kann und soll. Da können sich selbst die Kollegen aus dem nahegelegenen Leuvrigny, dem Meuniermekka, etwas von abgucken. Das was bei Lemaires Réserve noch fehlte, hat Leconte geschickt eingebaut. Etwas rassige Chardonnayschnittigkeit und einen Hauch Divenblut. Hätte er dabei nicht die ganze Zeit so grimmig und feindselig geguckt, hätte ich ihm das auch noch einmal deutlicher zu verstehen gegeben und vielleicht sogar etwas von dem Standardbrut gekauft.
b) Brut Réserve
80PM 15PN 5CH, fünfjähriges Hefelager
Produktpolitisch ein Champagner, der nicht von besonderem Einfallsreichtum künden mag, aber wie man ihn schonmal in Winzerportfolios finden kann. Es handelt sich um dieselbe Cuvée wie beim schon sehr gelungenen Standardbrut, nur dass sie länger auf der Hefe gelegen hat. Sonst hat Leconte nichts daran geändert. Die zwei Jahre zusätzlicher Hefeverweildauer haben ihm sehr gut getan. Der Champagner hat sich, auch wenn die abgestorbene Hefe nach ca. 18 Monaten keine signifikanten chemischen Veränderungen mehr verursacht, deutlich gerundet und ist meiner Meinung nach eine ganze Qualitätsstufe aufgestiegen.
c) Brut Rosé
65PM 30PN 5CH, entsteht durch Rotweinzugabe.
Etwas weniger begeistert war ich vom Rosé, der gut und fruchtig, aber nicht originell schmeckte. So und so ähnlich schmecken unzählige Winzerrosés, die fehlerfrei gemacht sind.
5. Canard-Duchêne, Cuvée Léonie
40PM 40PN 20CH, dreijähriges Hefelager.
Nach einer ganz schlimmen Erfahrung mit einer Flasche Charles VII. aus dem nun zu Thienot gehörenden Hause Canard-Duchêne hatte ich mir vorgenommen, den Erzeuger zu meiden. Doch kommt man manchmal nicht drum herum und nachdem mich der Blanc de Blancs zwar nicht versöhnt, aber beruhigt hatte, war nun die Cuvée Léonie mal dran. Ein properes, etwas dralles Mädchen. Angesichts des hohen Pinotanteils versteht man, dass sie nicht die hellste ist. Dennoch mangelt es nicht an einer gewissen Behendigkeit und zu einfachen Speisen aus der französischen Bistroküche und vor allem wenn Blattsalate mit der in Frankreich oft sehr essiglastigen Vinaigrette serviert werden, ist die Cuvée ein guter Begleiter.
6. Gaston Chiquet, Dizy
Blanc de Blancs d'Ay
8-9 g/l. Den reinsortigen Chardonnay aus Ay hat schon Nicolas Chiquets Vater in den 50ern erstmals hergestellt. Mittlerweile haben einige andere Erzeuger aus dem Pinotgürtel an der Marne nachgezogen, zu den prominenten BdB-Machern gehört Billecart-Salmon, unter den weniger bekannten muss man A. R. Lenobles Chardonnay (der freilich aus Chouilly stammt) ernst nehmen. Allen diesen Champagnern gemeinsam und von Gaston Chiquet über die Jahre vorbildlich gepflegt ist ein Stil, der von exotischer Frucht und wenig Säure geprägt wird. Mit seinen 8-9 g/l Dosagezucker gehört er nicht zu den Flitzern, wirkt aber auch nicht breit oder teigig. Mögen muss man diesen Stil allerdings, sonst wird man den Champagner als chardonnayuntypisch ablehnen – dabei ist er nur cote-des-blancs-untypisch.
Nicolas stellte seinen Champagner persönlich vor und gehört dabei zu den Winzern, bei denen die Fürsorge und Begeisterung für ihr Produkt nicht am Glas aufhört. Ordentliche, von Größe, Form und Glaswandstärke her ansprechende Verkostungsgläser aus der Rubis-Serie der Verrerie de la Marne brachte er auf den Tisch des gepflegten Hauses gleich neben Jacquesson.