Zu den Festtagen werden im ganzen Land wieder die im Supermarktregal gekochten Standardschäumer, der stets sehr gesuchte Champagner Bis(s)inger in seinen verschiedenen Spielarten aus dem Hause Vranken-Pommery, oder einer der notorischen Witwen-Klone zum Kartoffelsalat mit Würstln serviert, bzw. vorher oder nachher zur Einleitung des Fests feierlich vom Vati geöffnet, aber natürlich auch jede Menge schöne Winzersekte, Nobelcavas usf. aus der Sprudelecke des Weinkellers gekramt oder mit leuchtenden Augen aus dem Klimakühlschrank hervorgezogen. Einige ganz ganz Wenige werden die Festtage nutzen, ihren Lieben oder der Geliebten ganz besondere Schätze vorzusetzen. Die folgenden Notizen zu den derzeit marktgängigen Großcuvées mag als kleine Orientierungshilfe dienen. Naturgemäß sind nicht alle Champagner dabei. Ich habe mich auf die großen Häuser beschränkt und auch bei denen noch eine Auswahl getroffen. Ausgelassen habe ich nämlich der Einfachheit halber und weil es um große Champagner von großen Häusern geht alle, die nicht ein "Grand(e)" im Namen tragen.
1. Veuve Clicquot, La Grande Dame 1998, 1995, 1996
Auch schon wieder bisschen was her, dass ich die Grande Dame getrunken hatte. Zeit also für eine neuerliche Glasvisitation.
a) Im Frühjahr gab es eine 1998er zusammen mit Veuves Kellermeister Francois Hautekeur im Garten des zauberhaften Manoir de Verzy von Veuve Clicquot, wo wir uns die Wartezeit zum Dîner damit vertrieben, in den Weinberg und die Décolletés der Servierkräfte zu schauen. Das war eine sehr gute Sache, im Grunde hätte man daraus nahtlos ein Fotzsetzung von "Emmanuelle" drehen können. Mehr als ein halbes Jahr später ist die Softpornobeschaulichkeit einer höheren Form von Erotik gewichen. Ohne Schwulst in Mund und Nase, etwas Puder, etwas Verbene, rote und kandierte Früchte, durchweg klare Linien, sanft geschwungen und weiblich, schmeichelhaft, unverhüllt, gewiss nicht magersüchtig, aber ganz ohne Pölsterchen.
b) Die wenig später geöffnete 1995er Grande Dame konnte ihr Alter nicht verbergen, musste sie aber auch nicht. Mich interessierte nun, wie schnell oder langsam sich die 1995er Grande Dame 1995 fortentwickelt. Meine Hoffnung dabei: langsam, da ich mir vom 1995er Jahrgang mittlerweile noch einige schöne Trinkerlebnisse verspreche. Meine Hoffnung wurde bestätigt. Sicher ist die 1995er Grande Dame nicht mehr mit der Spannkraft einer Berufsanfängerin ausgestattet, dafür mit der versierten Überzeugungskraft einer berufserfahrenen Führungspersönlichkeit. Geschliffen, nobel, weinig und herb, wie ein Businesskostüm von Jil Sander. Auch frische Zitrusnoten aus ihrer ersten Reifephase haben sich erhalten, allem Anschein nach reift die Grande Dame auf dem jetzt erreichten Niveau langsam vor sich hin und wird noch einige Jährchen zur Verfügung stehen, bevor sie sich in die Seniorität zurückzieht.
c) Die Grande Dame 1996 habe ich bewusst weit weg gelegt, damit ich sie nicht versehentlich oder auf ihren Sirenenruf hin öffne. Jetzt war die Verlockung aber doch wieder so groß, dass ich mich rangemacht habe. Zur Strafe erging es mir wie dem Gouverneur Ollendorf in meiner Lieblingsoperette "Der Bettelstudent". Der erhielt von der schönen Comtesse Laura coram publico einen Fächerschlag ins Gesicht. Dabei hatte er sie vorher nur auf die Schulter geküsst. Das junge Fleisch ist nur scheinbar züchtig hochgeschlossen, weiß aber seine Reize sehr gezielt einzusetzen. Verboten scharfe, aber sehr effektiv den Champagner auf seiner Achterbahnfahrt in der Spur haltende Säure, geschwind bis turbulent ablaufende Aromenentwicklung, eine noch streng wirkende Mineralität, die schiere Sünde im Debütantinnen-Habit.
d) Kleines Fazit: Während die Heftigkeit der Umarmung des 1995ers etwas nachgelassen hat und Luft zum Atmen lässt, bockt die 1996erin noch ganz erheblich. Die Umarmung der 1998er Grande Dame ist demgegenüber innig, vertraut und von der richtigen Länge.
2. Über die Special Cuvée von Bollinger zu schreiben, ist ganz unergiebig, denn auf diese Cuvée ist so sehr Verlass, wie auf nur wenige andere Champagner. Trotzdem finde ich es immer sinnvoll, über die Standardbruts der Erzeuger an ihre Prestigeweine, d.h. hier über die Special Cuvée, bzw. den Rosé Sans Année an die jeweilige Grande Année heranzutreten. So mache ich das fast immer. Zur Standardcuvée von Bollinger erzähle ich an dieser Stelle trotzdem nichts und zum relativ neuen jahrgangslosen Rosé vielleicht gleich noch ein paar Worte.
a) Bollinger La Grande Année Blanc 2002, dég. Juli 2010 und dég. Februar 2011
Jetzt erstmal zur ungeduldig erwarteten 2002er Grande Année. Viel zu frisch war die natürlich, aber es half alles nichts, das Zeug musste runter. Was man bei anderen Weinen jung, quirlig, aufgeregt, auch kraftstrotzend oder übermütig nennen würde, erscheint hier nicht recht angebracht. Zwar trifft das alles zu, aber mit mehr Noblesse. Die aktuelle Grande Année ist juvenil, sportlich, trainiert, sehr konzentriert, dabei überraschend emotional. Wahrscheinlich genau der richtige Champagner für Sebastian Vettel. Seit dem 1990er die beste junge Grande Année, die ich getrunken habe.
b) Bollinger La Grande Année Rosé 2002, dég. Mai 2009 und dég. März 2011
Noch frischer als die weiße Grande Année war die Rosé-Version. Innerhalb der Bollingerfamilie ist die Grande Année Rosé, um ganz gegen meine Gewohnheit geschmacklose Inzestscherze auszulassen, der beziehungsreichste Champagner. Der Prototyp des Bollingerchampagners ist gewiss die Special Cuvée. Abgesehen von den Vieilles Vignes Francaises sind alle Champagner des Hauses in gewisser Weise Abkömmlinge von dem damit verkörperten Stil. "Alle" klingt dabei sehr zahlreich, doch gab es zusätzlich zur Special Cuvée lange Zeit nur die beiden Jahrgangschampagner Grande Année und seit dem Jahrgang 1952 die als "R.D." etikettierten Spätdégorgements der Grande Année. Mit dem 1976er Jahrgang trat die Grande Année Rosé dazu. Ein überschaubarer Clan, demnach. Der jüngst hinzugekommene jahrgangslose Rosé musste sich in dieses Bild einfügen, der Bezug zur Special Cuvée ist daher besonders eng. Ca. 6 % Pinot aus Verzenay machen den Unterschied zum weißen Standardbrut aus. Und wie der weiße Standard ist der jahrgangslose Rosé ideal, um sich an die Grande Année Rosé bruchlos heranzutrinken. Die Grande Année Rosé profitiert neben vielen Gemeinsamkeiten allerdings von einem noch exquisiteren Saft als der sans année, nämlich dem Pinot aus der Côte aux enfants. Was das an Verfeinerung und Klassenunterschied bringt, ist enorm. Unter den vielen gut gelungenen 2002ern gehört die Grande Année Rosé zu den besonders hervorhebenswerten Exemplaren. Wenn der Cristal Rosé 2002 der Unterwäscheparade von Vicoria's Secret entspricht, dann ist dies hier Lingerie von Valisere.
3. Drappier, Grande Sendrée
Michel Drappiers Grande Sendrée gehört zu den günstigsten Prestigecuvées am Markt, unter den Häusern vergleichbarer Größe gibt es nach meinem Wissen keines, das eine noch günstigere Prestigecuvée verkauft, die diesen Namen auch verdient hat und nicht einfach nur durch Zufall der teuerste Champagner des Portfolios ist.
a) Grande Sendrée Blanc 2004, dég. Januar 2011
55PN 45CH.
Leider befindet sich die ähnlich gebaute Grande Sendrée 2002 offenbar gerade in einer Verschlussphase, daher ist ein Vergleich zwischen beiden nicht sehr fruchtbringend. Gut hatte mir auf der Vinexpo dagegen die aktuelle Grande Sendrée 2004 gefallen, so dass es mir näherliegend schien, die jetzt nachzuprobieren. Die 2004er Grande Sendrée ist mittelgewichtig, aber nicht schmächtig. Sie gehört zu den Champagnern, bei denen ich immer wieder unterschiedliche Ausprägungen derselben positiven Attribute finde. Sanft und distinguiert, sehr präsent und hellwach. So wie man die Neigung zu einer halsbrecherischen Autofahrweise bei Michel Drappier gar nicht vermuten würde, kann man sich übrigens bei einem Besuch des Hauses, wo sie die Möglichkeit zur perfekten Reifung hat, von der wollüstigen Entwicklungsfreude der Grande Sendrée überraschen lassen. Nach einem doppelten Espresso zum Abschluss eines großen Mahls gibt es jedenfalls kaum etwas schöneres, als eine frische und vorzugsweise junge Grande Sendrée wie eben diesen 2004er für die inoffizielle Hälfte des Abends zu öffnen.
b) Grande Sendrée Rosé 2005, dég. Januar 2011
Mag sein, dass ich noch nicht genügend Grande Sendrée Rosé getrunken habe, mag sein, dass der Jahrgang besonders außergewöhnlich ist; hier zeigte sich ein etwas schwermütiger, melancholischer Rosé mit einem an smoothies erinnernden Früchtemuscharakter. Relativ wenig Säure und ein Schlußpunkt, der die Ballade stimmungsvoll und für mich ein wenig rätselhaft beendet. Wahrscheinlich noch etwas verschlafen, nach dem Dégorgement und ab Frühjahr 2012 überhaupt sinnvoll zu probieren.
In Teil II der Festtagschampagnerreihe geht es weiter u.a. mit Krugs Grande Cuvée.