Weitesgehend unbemerkt von der deutschen Weinöffentlichkeit hat sich in der Champagne ein Haus formiert, dessen Marktpotential noch längst nicht ausgeschöpft ist. Unter dem Dach der Gruppe Lanson-BCC finden sich geniale Köpfe wie Bruno Paillard, Gentlemen wie Charles Philipponnat, Markengiganten wie Lanson und Industrieerzeuger wie Burtin, daneben kleine und feine Marken wie Besserat de Bellefon und das einst etwas angestaubte Haus de Venoge, das sich momentan sehr sportlich gibt, außerdem eine ganze Reihe zumindest in Deutschland indifferenter Labels wie Chanoine, Boizel und Tsarine. Philipponnat konnte im letzten Vergleich mit Pol-Roger überzeugen, ein kleines Match mit de Venoge sollte deshalb unterhaltsam sein:
A. Philipponnat
Charles Philipponnat erklärte mir sehr freimütig, was er von der Jahrgangsdeklarationspraxis hält. Nicht viel, wie seine eigenen Jahrgänge zeigen. Ich erinnere nur an 1991, 1992, 1997 und 2003, Jahrgänge, die für sehr mäßig gehalten werden, bei Philipponnat hingegen stark ausfallen und teilweise (1991) bis heute zu überzeugen vermögen.
I. Royale Réserve, dég. Februar 2011
40-50PN 30-35CH 15-25PM, 07er Basis, Vinifikation im Stahltank und zu einem kleinen Teil im Holzfass, dort auch kein BSA. 25-40% Reservewein aus Soleraverfahren (jedoch nicht klassisch in Pyramidenform, sondern durch nachfüllen im Stahltank), teilweise aus Holzfassausbau. Mit 8 g/l dosiert.
Ähnlich wie die Nummerncuvées von Jacquesson und die Special Cuvée von Bollinger entwickelt sich die Royale Réserve von Philipponnat zu einem Champagner, den ich zu den buchstäblich fundamentalen Weinen der Region zählen möchte. Mit religiöser Gewissheit sind die einzelnen Dégorgements verbindlich, nussig, weinig, hefig, wohlgerundet, aber nicht aalglatt, dezent fruchtig, pointiert und diskret verspielt.
II. Dosage Zéro, dég. September 2009
06er Basis, 25% Reservewein
Flintig, mit dem Duft von unaufgeplatztem, butterglänzendem Popcornmais mit Salzristalle obendrauf. Am Gaumen keine bröckelige, kristalline Struktur, sondern seidenglatte, kühle, transparente Art.
III. Rosé, dég. Juni 2011
07er Basis, Assemblagerosé
Fein und weich, mit milder Candyanmutung. Kam mir viel zu jung vor und muss wahrscheinlich erst noch den Dégorgierschocl verarbeiten.
IV. Grand Blanc, Blanc de Blancs 2004
Chardonnay zu 70% aus der Côte des Blancs, jeweils 15% stammen aus dem Clos des Goisses und aus Trépail in der Montagne de Reims. Teils im Holz und teil in den neuen Stahltanks von Philipponnat vinifiziert. Mit 5-6 g/l dosiert.
Eine karibische Schönheit, die Elvis zum Aloha from Hawaii begrüßt haben könnte.
V. Brut Millésime 2003, dég. August 2010
70PN 30CH, mit 6 g/l dosiert.
Lebhaft und sehr reif, dabei nicht fett oder protzig. Auf der einen Seite sättigende Aromen von Kakao, Butter, etwas Nuss, auch Brioche, in der Mitte leicht zimtiges Apfelkompott und auf der anderen Seite eine couragierte Säure, die sich nicht nur als Gegenweicht versteht, sondern eigene Aktenze setzt und dem Wein so seine Spannung verleiht.
VI. Cuvée 1522 Blanc Millésime 2002, dég. Mai 2009
60PN aus Ay, lieu dit "Leon", 40CH jeweils zur Hälfte aus Chouilly, Cramant und Le Mesnil, mit 4 g/l dosiert.
Rote Traube, Muskattraube, Kreide. Dieser Dreiklang macht die Grundharmonie des Weins aus. Dunkle und tiefe Basis sind natürlich die rotfruchtigen, würzigen und leicht unterholzigen Pinotaromen, die große Terz bildet das reintraubige Muskataroma, als reine Quinte kommt kalkige Mineralität hinzu, die den Champagner über den Gaumen ausgleiten lässt und ihn zum starken Partner für Meeresfrüchte macht.
VII. Cuvée 1522 Rosé Millésime 2003, dég. Februar 2010
Im Gegensatz zur weißen Cuvée 1522 bezeichnungsrechtlich nur ein Premier Cru, weil 7% Pinot Noir aus Mareuil enthalten sind. Mit 4 g/l dosiert.
Sobald Kautschuknote, Latex, Ziegenleder und Handcrème verflogen sind, zeigen sich Walderdbeere, Himbeere und die dazugehörige delikate Säure. Sehr schön, sehr untypisch.
VIII. Clos des Goisses 2000, dég. Juni 2010
65PN 35CH, 30-50% im Fass vergoren. Mit 4 g/l dosiert.
Mein letzter Clos des Goisses 2000 war im Oktober 2009 dégorgiert, getrunken habe ich ihn im März 2011. Das aktuelle Dégorgement aus dem Juni 2011 musste sich also erheblich frischer zeigen.
Massiver Champagner, der noch immer nicht in seiner Eröffnungsphase angekommen ist, doch jetzt schon mit einem bedrohlichen Sirren wie von einem aufgebrachten Hornissenschwarm oder einer jenseits der Hügelkuppe herannahenden Kampfhubschrauberformation ankündigt, dass er recht bald entfesselt sein wird. Ältere Dégorgements dürften um Weihnachten 2011 soweit sein, dieses hier vielleicht im Sommer 2012.
Im Herbst 2011 wird es dann den neuen Clos des Goisses 2001 geben.
Im Herbst 2011 wird es dann den neuen Clos des Goisses 2002 geben.
Jahaa: Philipponnat bringt die beiden Jahrgänge zusammen raus. Der 2001er wird etwas weniger kosten, als der 2002er.
B. de Venoge
Als ich Ende der Neunziger auf den damals kurrenten Dom Pérignon 1990 eingeschworen war, eröffnete mir die Cuvée des Princes von de Venoge eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Reinsortiger Chardonnay der sich aus pompöskitschigem Flacon ins Glas ergoss und dabei einen Duft verströmte, der mit schwereloser Dom-Eleganz erkennbar nichts zu tun haben wollte. Ganz im Gegensatz zum royalistischen Auftritt ist die Cuvée des Princes so etwas wie die Industrial/EBM-Musik unter den Champagnern. Treibend, pulsierend, mit einer unkonventionellen, düsteren, muskelbetonten Körperlichkeit und finsterer Chardonnayästhetik. Momentan sieht es so aus, als habe man die Cuvée zu Gunsten des Louis XV. aufgegeben, von beiden gibt es einen 1995er, danach nur noch den 1996er Louis XV. Das muss nicht heißen, dass es keine Cuvée des Princes mehr geben wird, immerhin kam Konzerncousin Bruno Paillard erst vor wenigen Tagen mit seinem aktuellen N.P.U. 1996 heraus und Charles Heidsiecks Blanc des Millénaires 1995 ist noch immer die aktuelle Spitzencuvée des Hauses. Freuen würde ich mich natürlich auf ein Widersehen mit diesem sehr eigenwilligen Champagner. Bis dahin lohnt es sich freilich, die anderen Cuvées des Hauses im Blick zu haben.
I. Brut Sélect Cordon Bleu
50PN 25CH 25PM auf 07er Basis mit 20% Reservewein, stahltankvergoren. Mit 8 g/l dosiert.
Anisige bis lakritzige, leicht abweisende Nase. Im Mund überraschend lebhaft, sehr weinig, lebensfroh und kitzelnd.
II. Cordon Bleu Millésime 2000
70PN 15CH 15PM
Stark, fordernd, füllend. Voluminöser Stil, kerniger Champagner mit ausgeprägtem Traubenaroma, leichtem Gerbstoff und wenig Säure.
III. Blanc de Blancs Millésime 2002
80% aus der Côte des Blancs, 20% aus dem Sézannais.
Schlanker, etwas eng gebauter Champagner mit verführerischem Bittermandeltouch und ausgleichender Zitronigkeit; Sorbetcharakter. Geht später ein wenig in die Breite und erinnert dann mehr an lemon curd.
IV. Cuvée Louis XV. Millésime 1996
50PN 50CH aus dem Stahltank.
Großer Champagner. Hochgewachsen und aristokratisch, agil, stilsicher, nobel; kein verspieltes Rokokoweinchen, sondern pure Eleganz und ein an Fassausbau erinnerndes Aroma, das man so nur selten findet.
Die Vermutung, Philipponnat würde das zarte Pflänzchen de Venoge erbarmungslos kannibalisieren, ist falsch. Im Haus de Venoge steckt viel Potential, alte Kraft von langjährigem Renommée und wenn man sich dort entscheiden könnte, das Portfolio etwas aufzuräumen (denn es gibt eine Unmenge weiterer Cuvées von de Venoge, die ich aber nicht alle probiert habe) und das Markenimage etwas stimmiger zu gestalten (Louis XV. im Kristallflacon passt nicht recht zum Ivy League Polo Dress, bzw. vielleicht noch zu irgendwelchen pseudohistorisierenden fraternities), dann dürfte der Rückkehr des Hauses in die öffentliche Wahrnehmung nicht mehr viel im Wege stehen. Weinmäßig jedenfalls stimmt die Substanz.