Reinsortige Prestigecuvées sind nicht die Regel in der Champagne. Die lebt vom Mix der Rebsorten, Jahrgänge und Lagen. Reinsortigkeit an sich ist deshalb schon ein statement. Die Erzeuger sind mit diesen statements vorsichtig. Bollinger bewirbt die Vieilles Vignes Francaises nicht, Krug hält sich mit den Clos ebenfalls zurück und Salon ist sowieso ein Sonderfall. Nur Ruinart bekennt sich beim Dom Ruinart offen zum Chardonnay. Und Taittinger. Deren Comtes de Champagne gehören zu den selbstverständlichen Kompagnons der Tischkultur, aber man weiß doch recht wenig über sie. Daher schätzt man sie oft falsch ein. Die schlimmste Fehleinschätzung ist die, wenn man den Wein zu früh öffnet. Ein trauriges Schicksal für den Champagner, der zum Spülhelfer degradiert wird, ohne seine Qualifikation je wirklich ausdrücken zu können. Die Tellerwäscher zum Millionär Geschichte kann so jedenfalls nicht funktionieren. Champagner ist aber nunmal nicht, d.h. nicht mehr, der Tellerwäscher unter den Weinen. Vermeiden wir also in Zukunft, und das ist auch die Lehre, die ich mal wieder aus der Verkostung gezogen habe, ein allzu frühes, unbedachtes Wegtrinken großer Champagner, auch wenn es noch so viel Spaß macht. Warten wird mit noch viel mehr Spaß belohnt.
Terrassen-Wartechampagner war, bevor es in den gemütlichen Hallen der Familie Buggle, am Fuße von Burg Balduinstein und Schloss Schaumburg losging, der Brut von Taittinger, den man im Jardin de Crayères genauso bekömmlich wegsüppeln kann, wie im schönen Lahntal. Drinnen wurden gerade die Crespelle mit Lachs, Gurke, Kaviar und Wasabi gerichtet, damit es pünktlich losgehen konnte. Derweil kam draußen noch schnell der Comtes de Champagne 1997 in die Gläser, damit keiner auf dem Weg über die Straße dürsten müsse und das Körperinnere gebührend präpariert sei. Der 97er überraschte mit erheblicher Stärke und Präsenz. Makrele, Buchenholzrauch, verbranntes Fett, dazu eine ungeahnte und vor allem ungeahnt fitte Säure, die eine Entwicklung ins Orangige begleitete und selbst durchmachte, bei der mir alle Sünden und frevlerischen Aussprüche über den Jahrgang bitter und verkehrt vorkamen.
Der erste förmliche flight des Abends warf mein Weltbild weiter durcheinander. Comtes de Champagne 2005 war mandelig, süffig, voller Sapidität und Sukkulenz, aber genau deshalb auch unkonturiert und nebulös. Wie das bei jungen Großchampagnern eben oft so ist. Viel jünger als getippt schmeckte direkt danach der Comtes de Champagne 2000, dessen ausdrucksstarke Nase und aparte Säure mich eher an 2002 denken ließen. Unfassbar, gleich der zweite angeblich schwache Jahrgang, der so aufdrehte. Danach kam der gerade erst auf den Markt gelangte Dom Pérignon 2005, dessen toastige, röstige, holznahe aber holzfreie Art gerade in einer Comtes-Runde doch erheblichen Erkennungswert besitzen dürfte. Dachte ich. Aber nein, ich griff voll daneben und tippte auf Comtes 2000, den ich tatsächlich gerade erst zuvor im Glas gehabt hatte, nichtsahnenderweise. Beim Aufdecken also großes Hallo und das Koordinatensystem neu geordnet, Comtes 2000 für mich an der Spitze des flights und die beiden 2005er extrem unterschiedlich und dennoch pari.
Ein Zweierlei vom Rind mit Roter Bete und Räucheraal gab Gelegenheit zur Besinnung und Neuordnung, unterstützt von Nicolas Feuillattes Palmes d'Or 1996 und Feuillattes Blanc de Blancs 2002. Die Palmes, die man trotz ihres günstigen Preises und ihrer hohen drinkability nie so recht auf dem Schirm hat, wirkten entwickelt, buttrig, mit einer gegen Ende leider etwas wässrigen Art, die Säure hingegen unaufdringlich, wenngleich fortwährend da. Der Blanc de Blancs verblasste neben der fleischigen Körperlichkeit des Palmes d'Or und wirkte etwas eingeschüchtert.
Sehr reduziert, mit viel Austernschale, Löwenzahnblüte und kerbeligen Noten trat der Comtes de Champagne 1998 auf. Zwischen Reduktion und Frucht wollte sich nirgends so recht einpendeln der nächste Champagner. Ich hätte ihn in die Zeit nach 2000 gepackt und dachte, wir hätten es vielleicht jetzt mit 2002 zu tun. Aber wieder falsch. Um einen exquisiten, die Fahne des Jahrgangs noch einmal höher haltenden 1995er handelte es sich. Hätte ich, bei aller Begeisterung für dieses Jahr nicht für möglich gehalten. Für deutlich älter hätte ich hingegen den dann folgenden Comtes de Champagne 1999 gehalten. Der schmeckte so ähnlich, wie ein Dom Pérignon 1993 von vor drei Jahren. Erst völlig zugenagelt, dann rasend schnelle Entwicklung von Eisen, Jod und Seetang bis zu Weihnachtsgewürz und schließlich Minzöl. Wenn der Champagner das auch noch in langsam hinbekommt, freue ich mich auf die nächsten Jahre damit, aber in diesem flight bleibt für mich 1995 der klare Sieger.
Zur gebackenen Salzwassergarnele mit Lardo, Erbse und Kopfsalat ließe sich sich wahrscheinlich jeder Chardonnay gut trinken, was vor allem an den grünen aber weichen Aromen von Kopfsalat und Erbse und ihrer Empfänglichkeit für Salz jeder Art gelegen haben mag. Das wurde hier über den Lardo eingepflegt und passte sehr gut zum Sortencharakter der Champagner.
Zum Wildfangsteinbutt mit grünem Spargel, Spitzmorcheln und Estragon Beurre Blanc durfte es ruhig ein Comtes de Champagne 2004 sein. Zwischen ghee und trinkbarer beurre blanc in der Grundfrom bewegte sich dieser auch immer noch sehr junge Champagner. Natürlich ist das ein wundervolles Spielfeld für Spitzmorcheln. Auch der Butt tat sich nicht schwer und so konnte es nochmals gestärkt weitergehen.
Mit viel Rauch, Toast und Seetang kündigte sich der nächste Champagner an. Das fühlte sich an, wie wenn ein Zauberer oder eine Rockband auf die Bühne kommt. Der Bühnenrauch ist nur Show und eine echte Überraschung gibt es nicht, weil man sehr gut weiß, für wessen Show man das Ticket gekauft hat. Ich jedenfalls wäre verwundert gewesen, wenn es sich hier nicht um einen reifen Dom Pérignon gehandelt hätte, wobei ich irrig auf 1985 statt 1983 getippt habe. Den nächsten Champagner habe ich nur wegen seiner Eukalyptus-Mentholnote, die für deutliche und gelungene Reife spricht, für einen älteren Jahrgang gehalten. Sonst war da nichts, was auf Comtes de Chanpagne 1976 hingewisen hätte. Ein Kernstück des Abends. Als würdiger Paladin gesellte sich Comtes de Champagne 1983 hinzu, der sich nicht so zeitlos zeigte wie der Dom, sondern mit oxidativem Schokoton zu kämpfen hatte und bei dem später Minze und Liebstöckel eine Ältlichkeit ergaben die den Champagner müder wirken ließ, als den starken 1976er.
Gegrillte Meeresfrüchte mit Orangenfenchel und Bouillabaissesauce, dazu gab es Henriet-Bazin Brut Blanc de Blancs aus dem Erntejahr 2009 (70%) mit einer Solera von 1968 (!) bis 2008. Gepasst hätte wahrscheinlich auch der 97er Comtes mit seinen Orangenfilets, aber der war ja schon lange weg. Nun war es Henriet-Bazins Aufgabe, den Fenchel zu umwerben, was Solera sei Dank bestens gelang und dem frischen Chardonnayanteil des Champagners den Rücken freihielt für die Beschäftigung mit Meeresfrüchten, Röstaromen und Bouillabaisse.
Dick und saftig wie das rosa gegarte Bürgermeisterstück vom Kalb, das mit Spitzkohl, Petersilinpurée und Babymais auf die Teller kam, wirkte der erste Champagner des anschließenen flights. Dessen leichte alkoholische Schwere und das entwickelte Walnussaroma ließen einen vorsichtigen Schluss auf Comtes de Champagne 1990 zu. Danach gab es Dom Pérignon 1990, ein Champagner, der wie einst Willy Millowitsch nicht abtreten kann, der auf der Bühne sterben will. Der als Säureschlenker gedachte Comtes de Champagne 1996 hatte leider Kork und musste durch Bollingers Grande Année 1990 ausgetauscht werden, die sich aber nicht in Bestform zeigte. Abweisend, verschlossen, abgekehrt, erkaltet, mit schnell abnehmendem Mousseux. Besser aber immer noch, als der Comtes de Champagne 1986, dessen Whiskynote am Tisch so gar nicht zu begeistern vermochte.
Ein versöhnlicher Ausklang wurde uns dann beschert von zwei Champagnern, die man gut auseinanderhalten konnte, Dom Pérignon 1985 und Comtes de Champagne 1985. Natürlich war das Identifikationskriterium beim Dom Pérignon das kräftige Toastaroma und zum Topfensoufflé mit Rhabarber und Käsekucheneis wäre das einer der ganz wenigen Champagner, die ernsthaft etwas beitragen könnten. Wir haben uns aber zum Dessert doch lieber für einen klassischen Süßwein aus dem Hause Schönborn entschieden, der seiner gar nicht so einfachen Aufgabe, zwischen Quark und Rhabarber zu moderieren, gut nachkam.
Was habe ich gelernt? Vor allem Details. Die sind wichtig, wenn man es blind mit Wein zu tun hat. Am deutlichsten wurde mir das beim 1976er Comtes. Der schmeckte sehr jung, viel jünger, als der Jahrgang laut Etikett in meiner Vorausbeurteilung je hergegeben hätte. Aber Details in der Nase waren es, die den 76er verrieten. Außerdem habe ich über die Jahrgänge 1997 und 2000 gelernt, dass sie niht nur drei und vier und fünf Chancen verdient haben, sondern dass die Zeiträume zum Nachprobieren deutlich länger gestreckt sein dürfen. Ich werde das mit dem Jahrgang 2003 jetzt so handhaben. Beim Dom Pérignon 2005 habe ich festgestellt, dass er so stark auf typische Merkmale baut, wie vielleicht noch nie zuvor. Mir kommt er zur Zeit vor wie eine Konzentration von Toast und Röstnote, verbunden mit einer Leichtigkeit, die sich paradoxerweise fast greifen lässt.