Weitestgehend unbemerkt von der schaumweininteressierten Öffentlichkeit hat die Europäische Union die Verordnung (EG) Nr. 607/2009 der Kommission vom 14. Juli 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 479/2008 des Rates hinsichtlich der geschützten Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben, der traditionellen Begriffe sowie der Kennzeichnung und Aufmachung bestimmter Weinbauerzeugnisse erlassen. An monströse Bezeichnungen für nachgeordnete Rechtsakte haben wir uns ja schon gewöhnt. Was aber hier drin steckt, ist einmal mehr Weinbaupolitik ekelhaftester Natur.
Worum geht's? Die Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die gemeinsame Marktorganisation für Wein (auch kurz GMO Wein) ist der europarechtliche Rahmen unter anderem für die Herstellung von Schaumwein. Deren Anhang VIII D Nr. 3 bestimmt, bis zu welchem Zuckergehalt ein Schaumwein als z.B. "extra brut", "brut" oder "demi-sec" bezeichnet werden darf ("Angabe der Art des Erzeugnisses nach Maßgabe seines Zuckergehalts" heißt das im allerexquisitesten Sonntags-Normgeberdeutsch). Bisher war das mit den Süßegraden so:
Ein Schaumwein war
– extra brut, wenn sein Zuckergehalt zwischen 0 und 6 g je Liter lag;
– brut, wenn sein Zuckergehalt unter 15 g je Liter lag;
– extra dry/extra trocken, wenn sein Zuckergehalt zwischen 12 und 20 g je Liter lag;
– sec/trocken/dry, wenn sein Zuckergehalt zwischen 17 und 35 g je Liter lag.
Ohne schmutziges Hintertürchen geht es natürlich bei der EU nie. Deshalb regelte der Nachklapp schon immer, dass der Hersteller einen Begriff nach seiner Wahl verwenden darf, wenn der Zuckergehalt des Erzeugnisses die Angabe von zwei der aufgeführten Begriffe ermöglicht. Ein Schaumwein mit 13 g/l Dosagezucker geht folglich als "brut" ebenso durch, wie als "extra trocken". Ein Schaumwein mit 18 g/l kann sich "extra trocken" und "trocken" nennen, ganz, wie es der Hersteller mag.
In redaktionell gewohnt schlampiger Manier hat es die EU nun geschafft, die Vorgaben zu den Süßegraden praktisch beliebig werden zu lassen. Zwar
– muss der extra brut nach wie vor einen Zuckergehalt zwischen 0 und 6 g/l haben;
– auch nur scheinbar strenger ist die Regelung, dass brut alles ist, was unter 12 g/l liegt;
– aber dafür ist extra dry/extra trocken jeder Schaumwein, zwischen 12 und 17 g/l.
– dass sec/trocken/dry für Schaumweine gilt, die zwischen 17 und 32 g/l liegen, berührt nicht weiter.
Und eben gerade weil sowieso schon alles egal ist, erlaubt Artikel 58 Abs. 3 der Verordnung 607/2009 es jetzt, dass
unbeschadet der Verwendungsbedingungen gemäß Anhang XIX Teil A der Zuckergehalt um nicht mehr als 3 g/l von der Angabe auf dem Etikett des Erzeugnisses abweichen darf.
Dass es einen Anhang XIX gar nicht gibt, stört den Normgeber natürlich erstmal nicht. Weiss doch schließlich jeder, dass Anhang XIV damit gemeint ist. Weihnachtsmann im Sinne der EU ist bekanntlich auch der Osterhase. Viel verbraucherschützender findet es die Kommission ausweislich der scheinheiligen und unglaubwürdigen Erwägungsgründe offensichtlich, dass ein Schaumwein mit satten 9 g/l Dosagezucker noch als extra brut durchgeht; dass der Anwendungsbereich für die Bezeichnung brut lächerlich klein geworden ist; und dass ein mit 12 g/l dosierter extra trockener Schaumwein extra dicht an den extra brut heranrückt – zumal, wenn man an die 3 g/l "Toleranz" denkt (so nennt das jedenfalls, um die Verbraucher zu schützen, der Normgeber). Bei der Suche nach Sinn und Zweck der Vorschrift hilft nur das kriminalistische cui bono? weiter. Und das deutet in Richtung einer Schaumweinindustrie, die gerne auf der extra brut Welle mitsurfen möchte, ohne ihre Massenkundschaft zu vergraulen.