- Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
- wer lange sitzt, muss rosten.
- Den allerschönsten Sonnenschein
- lässt uns der Himmel kosten.
- Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid
- der fahrenden Scholaren.
- Ich will zur schönen Sommerszeit
- ins Land der Franken fahren,
- valeri, valera, valeri, valera,
- ins Land der Franken fahren!
- (Frankenlied; Viktor von Scheffel)
Seit Jahren hat es in Nürnberg genau eine Restaurant-Adresse, an der es für gourmetgeneigte Frankenbesucher kein Vorbeikommen gibt. Das gemütliche kleine Essigbrätlein am Weinmarkt. Auf das angenehme Tun von Gastgeber Ivan Jakir an der einstigen Wirkungsstätte von Rebellensommelier Billy Wagner lächeln zwei Michelinsterne wohlwollend herab; der Gault Millau gewährt Yves Ollech und Andree Köthe verdiente 18 Punkte. Ich habe mich sehr gefreut, in der schönen, allerdings beim Champagner von den allgegenwärtigen Namen großer Häuser dominierten Weinkarte die Ursules von Cedric Bouchard zu finden. Über den sehr fair bepreisten und in der Gastronomie wirklich nur ganz selten anzutreffenden Clos St. Hilaire von Billecart-Salmon für knapp unter 400 € habe ich mich natürlich auch riesig gefreut. Doch sollte meine beste Wahl zum Menu eine andere sein: Vouvray Demi-Sec 1998 von Huet! Für lachhafte 38 €/Flasche oder noch weniger, das habe ich in der Euphorie ganz vergessen. Denn nichts passt besser zur Küche des Essigbrätleins, als dieser Wein und vielleicht noch einige ganz großartige reife Rieslinge von der Mosel und meinetwegen noch Clos de la Coulée de Serrant aus den Siebzigern und frühen Achtzigern und weißer Musar oder so.
Einige Grüße aus der Küche, in schneller, aber noch nicht ungemütlicher Folge serviert, bildeten den Auftakt und wiesen die aromatische Richtung.
Die gelbe Tomate mit Nachtkerze und Knusperamaranth war genau das, was die Küche des Essigbrätleins zeigen will, wenn ich sie richtig verstanden habe. Scheinbar einfache, durch Unverstand und Sinnloskonsum nicht-mehr-alltäglich gewordene Produkte, deren eigene Aromatik schon Innehalten lassen sollte und die von Yves Ollechs Küchenkunst so faszinierend verbunden werden, dass man fast erschrickt, was aber auch am mutigen und von mir stets unterstützten Säureeinsatz liegen kann.
Quittenblüte mit gehobelten Macadamiaspänen. Von nussigeren Aromen bestimmt, nicht so säurelastig.
1. Broccoli mit Johannisbeere. Broccoli ist ja nicht viel mehr als ein läppische Beilage, dachte ich immer. Eine Beilage, die mir oft lieber ist, als Blumen- oder Rosenkohl, aber eben nichts dolles. Daraus machte Yves Ollech dann aber doch etwas dolles, indem er unreife Johannisbeeren dazugab. Den Säureüberfall hatte er mit einigen Vorabgrüßen aus der Küche schon angekündigt, daher kam er nicht so ganz überraschend; was überraschend kam, war das Geschmackserlebnis, die Art, wie Broccoli und Johannisbeere eine alchimistische Hochzeit feierten. Süße und Eigengeschmack vom Gemüse, Säure und Textur der Beerenbeigabe waren schlichtweg großartig.
2. Saibling mit Roter Bete. Ich hatte es schon im letzten Jahr mehrfach betont: der Einsatz von Roter Bete möge doch bitte sparsamer und bedachtsamer stattfinden und ist fast schon nicht mehr zu rechtfertigen, insbesondere einer seriösen Sterneküche kaum angemessen und richtiggehend unzu-, ja unerträglich. Im Fall des Essigbrätleins bedarf es einer Relativierung, nein einer Abbitte. Nicht nur, dass der Gang in seiner betörenden Einfachheit vollkommen gelungen war, sondern eine Küche wie die des Essigbrätleins kann solcherlei zu Modezutaten verkommenen Wurzeln auch glaubwürdig einsetzen, was in meinen Augen den alles entscheidenden Unterschied ausmacht. Bombastisch gut war der Saibling, der in einer Molke mit Kiefernnadelessenz serviert wurde, das ergab eine milde Schärfe, pikante Säure, würzige Erdigkeit, ein erschütterndes Waldaroma.
3. Bohnen mit Pistaziencrème. Etwas müde und allzu grün kam mir das Bohnengericht vor, die Pistazien wirkten nicht und einen ganzen eigenen Gang wären mir die Sachen im Ergebnis nicht wert gewesen.
4. Seeforelle mit Pfifferlingen. Sehr versöhnlich wirkte die Forelle, obwohl ich kein Fan von Surf & Turf und weiter gefasst kein Fan von Meeresfrüchten in einer wie auch immer gearteten Kombination mit Pilzen bin. Auf dem Hauptmarkt in Nürnberg habe ich noch wenige Stunden vorher frische und laut Werbeanpreisung "sehr gute" Trüffel gesehen, auch sog. Champagnerkorken und einige Pfifferlinge, die meinen Appetit geweckt hatten. Eine gewisse Auflösungserscheinung im Dogma war also schon vorhanden und daher meine Ablehnung von Forelle mit Pilzen nicht so strikt wie sonst. Spätestens das Gericht selbst hätte mich allerdings erweicht, so stimmig und feinwürzig war alles. Ein echter Dialog vom Meer zum Land und zurück, wie man ihn sich scheinbar in den Achtzigern und teilweise noch in den Neunzigern auf bis heute bespöttelten Speisekarten vorgestellt hat.
5. Lamm mit Lauch. Das wahrscheinlich beste Lamm meiner dynamischen Esserkarriere habe ich im Essigbrätlein gegessen. Am 29. August 2013. Punkt. Minimalistisch mit geschmortem Lauch serviert und wenn noch irgend etwas anderes ähnlich Gutes hinzugekommen wäre, hätte ich vor Glück wahrscheinlich das Bewusstsein verloren.
6. Aprikose mit Lindenblüten. Der Süßkram war in Ordnung, die Linde passte als blumiges Element mittlerweile schon gewohnt gut.
Im Essigbrätlein wird gewürzt, wie es sich gehört. Mutig bis provokativ, mit einer Konsequenz, Überlegenheit und Expertise, die für sich genommen einen dritten Stern verdient hat. Ähnlich belebt, wenngleich bei jedem auf eine völlig andere Art, habe ich bei Nelson Müller gegessen, der sich durchaus für den zweiten Stern empfehlen könnte, sowie von Tim Raue und in bisher aromatisch auf die Spitze getriebener Form bei Peter-Maria Schnurr im Leipziger Falco.