Jeder mittelmäßig interessierte Champagnebesucher kann nach wenigen Tagen jeden Ort zwischen Villers-Allerand und Villers-Marmery in der richtigen Reihenfolge aufsagen, die Weinbauflächen aller Grand Crus der Côte des Blancs bis auf den Ar genau runterrattern und mit etwas mehr Engagement die Jahresverläufe der letzten hundert Jahre repetieren. Reine Fleißarbeit, die man von jedem Weininteressierten erwarten darf. Die Champagne als relativ kleines Weinbaugebiet ist eigentlich schnell erkundet, möchte man meinen. Und das Basiswissen schafft man sich schnell drauf, Details dann bei Gelegenheit. So meint man aber auch nur. So meinte auch ich immer, bis mir aufging, wie wenig ich jenseits der großen Ortschaften überhaupt kenne und weiß. Das Sézannais, die Seitentäler der Marne, praktisch die gesamte Aube – überall klaffen riesige Lücken. Eine besonders große klafft im Vitryat.
Das Vitryat, das ist die Gegend rund um Vitry le Francois. Eine zugige, früher für ihre Windmühlen, heute für ihre Windparks bekannte Region, die man beim Durchfahren an ihrer charakteristischen Fachwerkbebauung – die sich von der zB in Troyes unterscheidet – erkennt. Hier, so vermutet man, ca. 30 Kilometer südöstlich von Châlons en Champagne, schlugen die Römer (im weitesten Sinne) vor 1500 Jahren in einer Art Ur-PEGIDA Attilas Hunnen zurück. Von den also hier belegenen katalaunischen Feldern hat Châlons seinen Namen. Geschichtsträchtig ist die Region also.
Auch der Weinbau hat hier Tradition und lässt sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen. In der Literatur wird das Vitryat irgendwie entfernt der Marne zugeschlagen, die Winzer vor Ort sehen sich mehr als nördlichste Bastion der Côte des Blancs. Man könnte das Vitryat auch eine zersplitterte Spiegelung von Montgueux nennen, denn wie der Kreidehügel unten im Süden ist der Weinbau im Vitryat auf Hügel verstreut. Aber nicht zufällig! Nachdem die Region die Hauptlast mehrerer Kriege zu tragen und die Reblauskatastrophe zu überstehen hatte, war von den einst tausenden Hektar Weinbergen nichts mehr übrig. Erst in den 1960er Jahren begann das CIVC mit der Rekultivierung. Die Gegend wurde mit hohem Aufwand wiederbelebt. Historische Forschung zeigte, dass der Chardonnay hier heimisch war und deshalb herrscht er hier heute wieder vor. Vorherrschen klingt dabei mächtiger, als die Landschaft bestätigt. Man kann nämlich durch das Vitryat fahren, ohne eine einzige Rebe zu sehen. Die sind alle auf haarscharf parzellierten Flächen an den Südhängen der verschiedenen, teilweise sehr steilen Hügel gepflanzt. So wollte es seinerzeit das CIVC. Tatsächlich hat man damals nur die geeignetsten Flächen mit ihrer charakteristischen graubrauntönigen Kreide für die Wiederbepflanzung freigegeben, ein zusammenhängendes Weinbaugebiet gibt es deshalb nicht. Das Vitryat besteht aus erratisch wirkenden Hügelrebflächen. Kurios.
Neugierig war ich deshalb auf die Champagner der heutigen Winzer und besuchte deshalb Charles Baffard von Champagne Baffard-Ortillon-Beaulieu in Bassuet. Dessen Weingut ist seit 1998 in einem entzückenden Fachwerkbau untergebracht, die Produktion findet mit modernster Technik statt, die Charles sich jedes Jahr neu mietet. Vinifikation erfolgt parzellengenau in Inox und zu einem geringeren Teil in Fässchen, die Reserve stammt aus einer im Fuder gelagerten Solera.
Was auf dem Papier auffällt, ist die hohe Dosage der Champagner von Baffard-Ortillon. Im Glas merkt man davon nichts. Die Chardonnays hier oben im Norden vertragen einfach etwas mehr Dosage; beim sehr langen reifen kann das ein nicht zu unterschätzender Vorteil sein. Ein anderer Vorteil ist die geringe Krankheitsanfälligkeit der überwiegend sehr alten Reben. Alt, weil die meisten Reben aus der Zeit der Wiederbepflanzung stammen, also aus den 1960ern. Geringe Krankheitsanfälligkeit, weil hier stets ein frischer Wind weht und damit Botrytis & Co. wenig Gelegenheit zur Niederlassung bietet.
Der Brut Tradition "Authentique" aus 70CH 30PM ist mit 11 g/l dosiert, Apfel, Birne, Akazie und Zitrusfrüchte lassen sich davon aber wider Erwarten nicht einkleistern, die beiden Blanc de Blancs von Baffard-Ortillon habe ich bei anderer Gelegenheit schon beschrieben. Die beiden hatte ich nur zwei Wochen vor dem Besuch probiert, große Unterschiede gab es demgemäß vor Ort nicht zu konstatieren. Interessant war die Probe der Vins Clairs aus 2014. Sehr wenig Säure, ein sehr reifes Auftreten mit viel Litschi, Birne und Exotik zog sich durch praktisch alle probierten Vins Clairs. Der reinsortige Meunier stand charakterlich den Chardonnays sehr nahe und gab nur bei der Säure ganz leicht nach.
Ein Besuch im Vitryat lohnt sich. Viele Erzeuger hat es hier nicht, viele verkaufen ihre Trauben weiter, insgesamt mag es an die 30 Winzer geben, deren betriebe, soweit ich sehen konnte, ziemlich gut in Schuss und weitere Erkundigung wert sind.