Wenn man die Durchschnittsbevölkerung fragt, welche Sterneköche sie kennt, wird man sicher einige Nichtsterneköche genannt bekommen und eine ganze Reihe Köche mit einem Stern. Frank Rosin mit seinen neuerdings zwei Sternen ist da schon eine Ausnahme. Und Dreisterneköche? Kennt im Land kein Mensch oder nur ganz wenige, jedenfalls nicht so viele wie für die Bedeutung dieser zehn Männer angemessen wäre. Unter den Dreisterneköchen wiederum kennt man manche besser und manche weniger gut. Denn sie alle üben sich in medialer Zurückhaltung, nur manche von ihnen sind dennoch umtriebiger als die anderen. Der einzige Rheinland-Pfälzer, Helmut Thieltges, ist einer von den ganz ruhigen Vertretern, zumindest was seine Präsenz in der Öffentlichkeit angeht. Sein Waldhotel Sonnora in Dreis, vorbei an Tennisclub und Schützenverein, auf malerischer Anhöhe gelegen, ist deshalb für mich der ideale Ort, um in Ruhe zu "arbeiten". Ulrike Thieltges führt das kleine Restaurant so souverän und gastfreundlich wie ein langjähriges Kaffeekränzchen. Über ihre Zusage, meine Glasverkostung unterstützen zu wollen, habe ich mich riesig gefreut, denn sicher hätte ihr ausgesprochen freundliches Team sonst besseres zu tun gehabt, als dauernd neue Gläser für mich anzuschleppen und zu befüllen. Dafür mein besonderer Dank!
Was aber hat es mit der Glasverkostung auf sich? Nun, ich bin einfach mit der typischen, mal mehr mal weniger ausgebauchten Flötenform der meisten Champagnergläser schon lange nicht mehr zufrieden. Eine ganze Zeit lang habe ich deshalb statt der eigentlich für Champagnergläser vorgesehenen Gläser lieber Weißweingläser oder hochgezogene Bordeauxkelche genutzt. In der Champagne selbst wurde zwischenzeitlich das Vinalies zum Standard-Verkostungsglas entwickelt, das über einen gedrungenen Kelch verfügt und mit den klassischen Sauternes-, bzw. Süßweingläsern verwandt ist. Das gefiel mir und so kam ich vor einigen Jahren zum Süßweinglas von Zalto, meiner Meinung nach eines der besten und von mir meistgenutzten Gläser für anspruchsvollen Champagner. Aber was sagt der Platzhirsch unter den Glasherstellern, Riedel dazu? Was hat Riedel dem ultraeleganten Süßweinglas von Zalto abseits der üblichen Verdächtigen, auf ungewohntem Terrain entgegenzusetzen? Einiges, so die Familie Riedel selbstbewusst. Ich hatte in meiner laienhaften Naivetät auf das Sauternes-Glas aus der Sommeliers-Serie gesetzt, doch die Familie meinte, ich sollte es doch mal mit Vinum Extreme Eiswein, Vinum Extreme Riesling und Vinum XL Pinot Noir probieren. Gesagt getan.
Testgetränk war neben dem zwei Tage vorher im Essigbrätlein schon glänzend bewährten Billecart-Salmon Brut Réserve und dem Ayala Brut NV Rosé der großartige Bruno Paillard Nec Plus Ultra 1990, dégorgiert im Juli 2002. Das ist genau deshalb der beste Wein für die von mir geplante Verkostung, weil er zu 50PN 50CH aus Bouzy, Verzenay, Cramant, Oger, Le Mesnil besteht; Vinifikation und Ausbau erfolgen über zehn Monate in kleinen Holzfässern, die Dosage liegt bei 4 g/l und eine weitere Seltenheit kommt noch dazu: nach dem Dégorgement wandert der N.P.U. nochmal für ganze 18 Monate zurück in den Keller von Bruno Paillard, um dort die Dosage zu verarbeiten und echte Trinkreife zur Marktfreigabe zu erlangen. Das was sich beim ersten der bisher drei (bzw. mit dem jetzt kommenden 1999er sind es schon vier) Nec Plus Ultras tut, ist gigantisch. Pinot, Chardonnay und Holz schießen ihre Eigenschaften wie Bugplasma an den Gaumen, ungeheure Säuremengen entladen sich da, duftiger Pilz, Cherry Heering, Kaffeelikör, Île flottante stoßen großzügig dazu. Hätte ich diesen sensationellen Wein im Nürnberger Essigbrätlein dabeigehabt, wäre er eine von nur ganz wenigen Alternativen zum 98er Vouvray Demi-Sec von Huet gewesen.
Gruß 1: Vichyssoise mit Räucheraal, Kaviar und Lachsrillette. Ein Gruß von klassischer Schönheit. Unverpampt, trotz der vielen naturgemäß enthaltenen Stärke, unvefettet, trotz der fettreichen Zutaten, unversalzen, trotz der salzgeneigten Komponenten. Wer das so ausgewogen hinbekommt und vorzeigt, verfügt über so etwas wie das absolute Gehör, bezogen auf Aromen. Gut, das zu wissen.
Gruß 2: Hummergratin, Safranschaumsüppchen mit Muscheln, gebackene Edelfischpraline mit Mangochutney. Purer Hummer, reiner Safrangeschmack mit den ganz natürlich dazu passenden Muscheln, köstliches Chutney, dem man keinerley unnötige Säure oder übertriebene Aromatik abschmeckt, ein kongenialer Partner zur edelfischpraline, die allerdings auch gut ohne krosse Teigsträhnchen ausgekommen wäre.
Dazu schlägt Zaltos Süssweinglas das Riedel Eisweinglas: der Champagner wirkt feiner, jünger und eleganter im Zaltoglas und zwar genauso viel, wie das Zaltoglas selbst feiner und eleganter ist, als das sehr ähnliche Eisweinglas.
1. Bretonische Hummermedaillons, Spargel, Vinaigrette und Joghurtdressing. Fordernd auf den Champagner wirken vor allem Joghurt und Vinaigrette, beide stellen ja schon im Essen ein Spannungsfeld her, dass man sich wie im Umspannwerk fühlt. Zum Abisolieren eignet sich das Burgunderglas von Riedel einzigartig gut, die feine Hummernote und der perfekte Spargel bekommen so den richtigen Auftritt.
2. Wachtel, Gänseleber mit Apfelspalte. Was für ein köstlicher kleiner Vogel die Wachtel doch ist, den sollte es ruhig mal in größer geben, finde ich. Dazu Gänseleber und Apfelspalte zu kombinieren wird vielen Essern nicht als besonders mutig erscheinen, ist es aber dann doch: eine so naheliegende, unexotische Kreation bedarf mittlerweile einer Rechtfertigung und die ist schnell gefunden: Thieltges schafft es, den Gang – den ich beim Blick auf die Karte innerlich als langweilig abgetan hatte – zum Erlebnis zu machen. Irgendwie gart er die Sachen anders oder stellt wer weiß was damit an, jedenfalls war das Wachtelchen so wunderbar spätrömisch-dekadent zusammen mit der Leber zu genießen, dass der Gang volle Dasinsberechtigung hat.
Riedel XL Pinot Noir ./. Vinum Extreme Riesling. Das Burgunderglas gibt Jod und Reduktion frei, das Rieslingglas ist präziser, blumiger, aber auch lauschiger. Im Mund gibt sich der Champagner aus dem Burgunderbecher weicher, mit viel milderer Säure, was beim Hummer mit Vinaigrete und Joghurt superb wirkt, bei der Wachtel aber nicht so sehr überzeugt; aus dem Rieslingglas kommt der Champagner deutlich saurer, härter und konzentrierter rüber, in Verbindung mit dem Essen multipliziert sich der Säureeindruck zur Vinaigrettesäure und wirkt sicher für Viele überladen, ich fand es als Säurefreund jedenfalls schon grenzwertig. Umso besser dagegen das Rieslingglas zur Wachtel, der in sich geschlossene Gang wurde schön, allerdings nicht gerade schonend aufgebohrt und gewann eine ganz andere, neue Dynamik.
3. Seeteufel, Fenchel, Vinaigrette; hier nochmal eine gute, für manchen vielleicht sogar zu starke Vinaigrettesäure und ein perfekter Seeteufel. Das Rieslingglas zeigte sich auf Augenhöhe mit dem Burgunderbecher. Mit dem Seeteufel kamen beide sehr gut zurecht, die Sympathien des Burgunderglases gehörten dem Fenchel, das Rieslingglas verbündete sich lieber mit der Vinaigrette und tat dies etwas zurückhaltender als noch beim Hummergang. Unentschieden also. Das Eisweinglas schlug sich wacker, konnte aber auf dieser Höhe nicht mithalten.
4. Gegrillte Royal-Langustinen, Eisweinglacée und Chicorée. Herber Chicorée, Grillaromen, Langustinen und Wein. Nicht leicht, sich da hindurchzufinden, bei weniger guten Köchen sogar die Gefahr eines Totalreinfalls. Nicht so in Dreis. Glückwunsch geht nach Helmut Thieltges vor allem von mir an mich für die Auswahl des zu diesem Gang perfekt passenden Champagners, der im Burgunderglas herrlich dandyhaft wirkte und im Rieslingglas etwas forscher und spitzbübischer. Ich neige um Haaresbreite stärker dazu, dem Burgunderglas hier den Vorzug zu geben und gab auch dem Eisweinglas nochmal eine Chance. Das hatte durchgeschnauft und genug Puste gesammelt, um den Gang vernünftig begleiten zu können, ließ aber gegenüber den beiden anderen doch Federn.
5. Eifeler Rehrücken mit karamellisierter Macadamiakruste, Sellerie, Griessriegel und Kumqat. Noch so eine schöne Kombination und zusammen mit dem Tartar-Kaviar-Törtchen einer von Thieltges' großen Klassikern. Anmutig wirkt dazu der Champagner aus dem Burgunderglas, knallig wirkt das Rieslingglas vor allem mit der Kumqat; Überraschungsstargast ist das Eisweinglas, das zu diesem feinen Reh die genau richtige Dosis Eleganz und Säure aus dem Champagner freilässt, der ja selbst von beidem genug hat.
6. Beeren mit minzig gelierter Mosel-Rieslingsektbowle, Verbene und Zitronengraseis. So schön, so einfach, nichts Überkanditeltes. Einen passenderen Abschluss kann man sich gar nicht vorstellen, einen spektakuläreren schon. Dazu hält die Karte auch manche Schweinerei bereit, aber in das Menu passt genau dieser erfrischende Fruchtspass. Champagner passt da nicht.
7. Langres, Trappe d'Echourgnac, Mimolette, Morbier. Klar, zum Lokalmatadorenkäse der Champagne ist der Bruno Paillard ein Partner wie aus einem orientalischen Zwangseheversprechen. Zum walnussigen Trappe d'Echourgnac bestehen genauso enge verwandtschaftliche Aromabeziehungen, Mimolette ist noch nie problematisch zum Champagner gewesen und alter Mimolette auch nicht. Meine Glasbeobachtung dazu war nicht einfach. Burgund war zu fein, Riesling zu aggressiv und offensiv auf Mineralität plus Säure getrimmt, Eiswein einmal mehr eine gute und solide Empfehlung und das Sauternesglas feierte seinen schönsten Auftritt im Laufe des Menus. Denn unter Nasengesichtspunkten ist das Sauternesglas ein Champagnerkiller, vom mächtigen Paillard kam kaum etwas durch. Im Mund kamen dafür 110% der Säure am Gaumen an; zu den vier Käsesorten gut und vom Effekt her dem Riesling sehr ähnlich, ohne dass sich eine störende Nase einmischte. Die Käse konnten jeder für sich ihre starke Nase ausfalten, es gab keinerlei Verwirrung zwischen Glas und Käseteller.
Fazit: das Riedel Vinum XL Pinot Noir holt sehr einfühlsam die sanften Noten aus reifem Großchampagner wie dem Bruno Paillard N.P.U. 1990, das Vinum Extreme Riesling forciert die rieslinghaften Seiten des Champagners, Säure und Mineralitaet bekommen in diesem Glas die Maske heruntergerissen. Ganz gegen meine Erwartung schnitt das Sommelier Sauternes nicht annähernd so gut ab wie das Extreme Eisweinglas und konnte nur zum Käse wirklich glänzen.