Veuve Clicquot – Die Geschichte des Champagner-Imperiums und der Frau, die es regierte
Tilar J. Mazzeo
Hoffmann und Campe
320 Seiten
19,99 €
ISBN-13: 978-3455501247
Es ist erstaunlich, aber wahr: eine der berühmtesten Witwen der jüngeren Weltgeschichte stand bisher ohne Biographie da. Die nun von Tilar Mazzeo vorgelegte Geschichte ist, das vorweg, keine Biographie im allerengsten Sinne. Schuld trägt jedoch weniger die Autorin, als die Umstände und Zeitläufte. So war es bis in das 19. Jahrhundert hinein höchst unüblich, aus den Lebensdaten einer weiblichen, damals eher relativen Person der Zeitgeschichte ein literarisches Werk zu fertigen. Wenn überhaupt, dann machte sich die schreibende Zunft diese Mühe allenfalls bei den Damen des Hochadels; zwar wurde die Grande Dame der Champagne über die Grenzen Frankreichs hinaus als ein gekröntes Haupt der Champagne wahrgenommen – aber die Person hinter dieser schon früh sehr starken Namensmarke blieb in der öffentlichen Wahrnehmung trotzdem seltsam farblos. Ihre Nachkommen sorgten sich dementsprechend wenig um den Erhalt z.B. ihrer privaten Bibliothek oder gar persönlicher Schriftstücke, ja selbst die Champagnerfirma blieb nicht sehr lange in den Händen ihrer Familie. Der Autorin kann man aufgrund der in persönlicher Hinsicht dürftigen Quellenlage das Recht zugestehen, fiktionale Anteile und erzählerische Auflockerung einzuarbeiten, was ihr auch tadellos gelingt.
Der Buchumschlag ist in der charakteristischen Farbe des Carte Jaune, dem Standardbrut des Hauses, gehalten. Diese "Farbe des Dotters aus den Eiern der berühmten, mit Mais gefütterten Bresse-Hühner" ist das berühmte Clicquot-Gelb und macht sofort Lust aufs Lesen. Mazzeo schreibt flott und unkompliziert, leider um den Preis einiger Ungenauigkeiten. So ist die Angabe Demi-Sec dosierte Champagner enthielten bis zu zwanzig Gramm Restzucker pro Liter falsch, wie sich schnell aus den einschlägigen Normtexten ergibt (Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die gemeinsame Marktorganisation für Wein (auch kurz GMO Wein) schreibt in Anhang VIII D Nr. 3 satte 33 bis 50 g/l vor, nach Art. 58 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang XIV Teil A der Verordnung (EG) Nr. 607/2009 der Kommission vom 14. Juli 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 479/2008 des Rates hinsichtlich der geschützten Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben, der traditionellen Begriffe sowie der Kennzeichnung und Aufmachung bestimmter Weinbauerzeugnisse dürfen es neuerdings 32 – 50 g/l bei 3 g/l Toleranz sein).
Ebenfalls verkehrt ist die Aussage, in der Champagne seien nur drei Rebsorten zur Vinifikation von Champagner zugelassen, denn das Loi du 22 juillet 1927, reprenant le texte de la Loi du 6 mai 1919 spricht glasklar und eindeutig davon, dass die verschiedenen Pinotrebsorten, Arbane und Petit Meslier zugelassen sind. An der Aube kommt sogar noch die Gamay hinzu, so dass ampelographisch korrekt bis zu zehn Rebsorten für die Champagneproduktion erlaubt sind. Ebenfalls unrichtig ist die Aussage, bis heute gebe es nur zwei Arten Champagner: Blanc de Blancs und Blanc de Noirs. Denn die weitaus allerhäufigste Art ist der Verschnitt aus weißem Chardonnay und schwarzen Pinot-Noirs, bzw. Pinot Meunier. Genau deshalb ist die Folgeaussauge, die Art sei auf dem Etikett angegeben, genauso falsch.
Zumindest fraglich ist außerdem die Aussage, Napoleons Bruder Jérôme habe bei Moet sechs tausend Flaschen Premier Cru geordert – denn zu dieser Zeit gab es die dem Premier- und Grand Cru System zugrunde liegende échelle des crus noch gar nicht. Über die Behauptung, Champagner werde nach dem dégorgieren nicht gerade besser und gehöre möglichst bald getrunken, kann man sich ebenfalls streiten. Ich vertrete die von zahlreichen Winzern und Kellermeistern geteilte Gegenauffassung. Das klärt ganz nebenbei die Fronten: Mazzeos Ansicht ist eine von den Marketingexperten der Champagne in Umlauf gebrachte und von vielen Frischetrinkern gern übernommene, während die Meinung derjenigen, die am engsten mit dem Produkt vertraut sind, im Vertrieb für Probleme sorgt.
Hinweisen muss ich zudem auf eine gewisse Ungenauigkeit bei den Angaben zum Crémant. Dieser Wein war nie und ist kein Perlwein im Sinne des Weinrechts. Es gilt vielmehr zu unterscheiden: der klassische Crémant war ein Champagner mit etwas niedrigerem Flaschendruck aufgrund eines geringer dosierten Tiragelikörs. Die Mousse dieser Champagner war immer besonders sahnig und bis heute kann man so produzierte Champagner probieren, die allesamt Schaum- aber keinesfalls Perlweine sind. Der bekannteste von ihnen ist wahrscheinlich der lange Zeit als Crémant de Cramant (heute: Mumm de Cramant) verkaufte Champagner von Mumm. Andere Erzeuger sind Besserat de Bellefon mit ihren Cuvées des Moines, Bruno Paillards Blanc de Blancs gehört dazu, aber auch Chartogne-Taillets Fiacre. Diese Bezeichnung war freilich lange Zeit nicht geschützt und sorgte bis in die späten achtziger und neunziger Jahre für Rechtsstreitigkeiten. Der Europäische Gerichtshof hatte beispielsweise am 18. Mai 1994 eine Nichtigkeitsklage des spanischen Cava-Herstellers Codorniu zu entscheiden (Az.: C-309/89). Dabei ging es um die Grundregeln für die Bezeichnung und Aufmachung von Schaumwein und Schaumwein mit zugesetzter Kohlensäure, wie sie in der Verordnung Nr. 3309/85 niedergelegt waren. Nach einer Änderung der Vorschrift sollte es nur französischen und luxemburgischen Schaumweinen erlaubt sein, sich "Crémant" zu nennen. Codorniu hatte das Markenzeichen "Gran Cremant de Codorniu" aber schon 1924 in Spanien eintragen lassen und seither verwendet.
Das Lesevergnügen wird von diesen Ungenauigkeiten nicht getrübt. Vielmehr muss man anerkennen, mit welcher Sorgfalt und Mühe Mazzeo den Spuren der Familie Ponsardin nachspürt und wie gut es ihr gelingt, dem Leser einen lebhaften Eindruck von der dramatischen Lebensgeschichte der Witwe zu verschaffen. Kind eines wohlhabenden, royalistischen Vaters, wurde die junge Barbe-Nicole mitten in die Revolutionswirren geworfen – das allein hätte den Stoff für eine Erzählung von Alexandre Dumas oder Victor Hugo abgeben können. Aber es kommt alles noch viel schlimmer. Die Regimewechsel werden ein ständiger Begleiter im Geschäftsleben der großen Witwe. Über Jahre hinweg ist der sich internationalisierende Weinhandel die reinste Berg-und-Tal-Bahn, ein verschwenderischer Schwiegersohn und ein etwas windiger Geschäftspartner sorgen für zusätzliche Aufregung. Mit riskanten Zusatzgeschäften kommt der drohende Bankrott und ohne das beherzte Eingreifen ihres seinerzeit wichtigsten Vertrauten Edouard Werlé hätte das Champagnerhaus 1827 die Schotten dichtmachen müssen.
Ein wichtiges, bis heute erhaltenes Zeugnis vom Reichtum der Witwe ist das oberhalb des Marnetals bei Epernay zu bewundernde Château de Boursault. Nuraghe Fringhian, ein armenischer Juwelier und Genozid-Flüchtling, kaufte das Schloss 1927 und versah es am Hauptschornstein mit seinen Initialen. Heute gehört es Harald Fringhian, der dort nur höchst selten Besuch empfängt. Das ist vor allem für die Autorin schade, die das Schloss lediglich kurz von außen betrachten durfte. Im Inneren sind nämlich noch immer die kostbaren und kunsthistorisch aussergewöhnlichen Vorhänge zu bewundern, auch der prunkvolle Kamin ist vollständig erhalten. Im Eingangsbereich kann man die sich vermählenden Wappen der Familien Chévigny und Rochechouart de Mortemart betrachten und wenn er gut gelaunt ist, führt Harald Fringhian seine Besucher in den Keller des Schlosses, wo bis heute Champagner von den ca. 22 ha Weinberg innerhalb der Schlossmauern (technisch wäre das Weingut als Ganzes einer der wenigen Clos der Champagne) produziert wird. Die Mischung aus Weinkeller und Festungsanlage ist übrigens sehr beeindruckend. Im Keller befindet sich sogar noch der "Kühlschrank", eine tief in den Berg hinein gemauerte Grube, in der früher über längere Zeit Eis und Schnee gelagert wurden. Die Erzählkunst der Autorin hilft mühelos über diese fehlenden Einblicke hinweg. Sie verknüpft gekonnt die Schilderung der Lebensverhältnisse unserer Witwe mit einer Zusammenschau ihrer für die Nachwelt bedeutendsten Leistungen. Drei davon stechen besonders heraus: Die Internationalisierung des Champagnermarkts, die Schöpfung einer Markenidentität und die Entwicklung des Rüttelpults. Das alles ermöglichte überhaupt die erfolgreiche Massenproduktion von Champagner und wurde in seiner Bedeutung, so Mazzeo, erst von der Massenvermarktungsstrategie – vor allem des Brut-Champagners – der Witwe Pommery wieder erreicht. Mit dieser und den nachfolgenden Generationen an Champagnerwitwen schliesst das Buch, dessen Lektüre ich ausdrücklich empfehle.